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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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der Flut retten könne, an den sinnlosen Worten fest: Sie muß wiederkommen … sonst würde das Licht nicht brennen …
      Dann entdeckte er die Leere des Zimmers. Die Bürsten und die Cremetöpfe vor dem Spiegel fehlten; eine Tür des Schrankes stand halb offen, und der rosa- und pastellfarbene Fleck der Kleider fehlte in der Öffnung; sie gähnte schwarz und verlassen. Nur der Geruch im Zimmer war noch da, ein Hauch Leben, aber auch schon dünner … Erinnerung und lauernder Schmerz. Dann fand er den Brief und wunderte sich stumpf, daß er ihn so lange nicht gesehen hatte – er lag mitten auf dem Tisch.
      Es dauerte lange, ehe er ihn öffnete. Er wußte ohnehin alles – wozu ihn noch öffnen? Schließlich riß er ihn mit einer vergessenen Haarnadel, die neben ihm auf einem Sessel gelegen hatte, auf. Er las ihn, doch die Worte drangen nicht mehr durch die Eisschicht seines Gehirns; sie blieben tot, Worte aus einer Zeitung, einem Buch, zufällige Worte, die ihn nichts angingen. Die Haarnadel in seiner Hand war lebendiger.
      Er saß ruhig da und wartete auf den Schmerz und wunderte sich, daß er nicht kam. Es war nur ein taubes Gefühl, eine ungeheure Dämpfung, wie der angstvolle Augenblick vor dem Einschlafen, wenn er eine zu große Dosis Brom genommen hatte.
      Er saß lange Zeit so. Er sah seine Hände an – sie lagen wie weiße, tote Tiere auf seinen Knien; blasse, empfindungslose Kraken mit fünf schlaffen Tentakeln. Sie gehörten nicht zu ihm. Er gehörte überhaupt nicht zu sich selbst, er war der Körper eines andern, dessen Augen nach innen gerichtet waren und eine Lähmung anstarrten, die nur manchmal in sich erzitterte.
      Schließlich stand er auf und ging in sein Zimmer zurück. Er sah die Krawatten auf dem Tisch liegen. Mechanisch suchte er eine Schere heraus und begann die Binder zu zerschneiden, sorgfältig, Streifen um Streifen. Er ließ die abgeschnittenen Stücke nicht auf den Boden fallen, sondern sammelte sie pedantisch in der hohlen Hand und schichtete sie auf dem Tisch zu einem bunten Häufchen. Mitten in dieser automatischen Tätigkeit überraschte er sich dabei, was er tat; er legte die Schere beiseite und hörte auf. Gleich darauf hatte er vergessen, was er getan hatte. Er ging mit steifen Schritten durch das Zimmer und setzte sich in eine Ecke. Dort blieb er hocken und rieb sich die Hände, immer wieder, mit einer sonderbar müden, greisen Bewegung, als fröre er und hätte nicht mehr die Kraf, sich wirklich zu wärmen.

    Kern warf die letzten Streichhölzer in die Luf. Da
    legte sich eine Hand auf seine Schulter. »Was machen
    Sie denn da?«
      Er zuckte zusammen, wandte sich um und sah eine Uniform. »Nichts«, stammelte er. »Entschuldigen Sie! Eine Spielerei, weiter nichts.«
      Der Beamte sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Es war nicht derselbe, der ihn bei Ammers verhafet hatte. Kern sah rasch zum Fenster hinauf. Ruth war nicht mehr zu sehen. Sie konnte auch wohl nichts bemerkt haben; es war zu dunkel.
      Kern versuchte ein treuherziges Lächeln. »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte er leichthin. »Es war nur ein kleiner Spaß. Sie sehen sicher selbst, daß nichts dadurch geschehen konnte. Ein paar Streichhölzer, weiter nichts. Ich wollte mir eine Zigarette anzünden. Sie brannte nicht recht, da habe ich gleich ein halbes Dutzend genommen und mir fast die Finger verbrannt.«
      Er lachte, schlenkerte die Hand und wollte weitergehen. Doch der Beamte hielt ihn fest. »Einen Moment! Sie sind kein Schweizer, was?«
      »Warum nicht?«
      »Das hört man doch! Warum leugnen Sie?«
      »Ich leugne ja gar nicht«, erwiderte Kern. »Es interessiert mich nur, woher Sie das sofort wußten.«
      Der Beamte betrachtete ihn äußerst mißtrauisch. »Sollten wir da vielleicht …?« murmelte er und ließ eine Taschenlampe auflitzen. »Hören Sie!« sagte er dann, und seine Stimme hatte plötzlich einen anderen Klang. »Kennen Sie Herrn Ammers?«
      »Keine Ahnung«, erwiderte Kern, so ruhig er konnte.
      »Wo wohnen Sie?«
      »Ich bin erst seit heute morgen hier, wollte mir gerade einen Gasthof suchen. Können Sie mir einen empfehlen? Nicht zu teuer.«
      »Zunächst kommen Sie mal mit. Da liegt eine Anzeige von Herrn Ammers vor, die paßt genau auf Sie. Das wollen wir erst mal auflären!«
      Kern ging mit. Er verfluchte sich selbst, daß er nicht besser aufgepaßt hatte. Der Beamte mußte auf Gummisohlen von hinten herangeschlichen sein. Eine Woche lang

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