Liebe Hoch 5
Zwar hatte er ihm vorsichtshalber sein Handy abgenommen. Aber so verständnislos, wie dieser Idiot gegrinst hatte, als Milo ihm sagte, die Sache mit Lenni werde Irina noch bitter bereuen – da konnte er sicher sein, dass der Kerl nichts von einem Kind ahnte. Irina hingegen hatte ihn jahrelang belogen. Und nicht nur ihn.
Milo schluckte schwer, als er zu seinem Erstgeborenen hinüber sah, der mit seinem kleinen Bruder vor dem Weihnachtsbaum spielte. Irina würde für diese Sache bezahlen. Soviel war sicher.
Mal sehen, wie er es anstellte. Vielleicht eine gesperrte Abfahrt. Oder ein defekter Bügel im Sessellift.
Als Frau Kowalski Irinas Tränen mit einem Taschentuch getrocknet hatte und Irina gedankenverloren den Hals reckte, um die anderen Mitfahrenden in Augenschein zu nehmen, blieb ihr Blick an der Gestalt eines jungen Mannes hängen. Er saß zwei Reihen hinter ihr, mit in die Kapuze eines Parkas versenktem Kopf. Man hatte eine Schicht Decken über ihn gelegt, offensichtlich war er länger im Freien gewesen. Seine Lippen waren blau und rissig, unter den geschlossenen Lidern glänzten dunkle Schatten. Sein Kopf lehnte an der Scheibe.
Stirnrunzelnd betrachtete Irina das Muttermal am linken Mundwinkel. Oh Gott , dachte sie und hielt die Luft an. War das Jan? Hastig wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln, schälte sich aus ihrem Sitz und arbeitete sich durch die Reihen.
»Jan?«, flüsterte sie und ließ sich neben ihn gleiten. Er regte sich kaum. Seine Wangen waren eiskalt, als sie darüber strich. Fast hätte sie denken können, er sei tot. Doch sein Brustkorb hob und senkte sich unter den dicken Decken und plötzlich vernahm sie seine Stimme: »Du warst nicht an der Bushaltestelle«, flüsterte er. Irina griff nach seiner Hand und drückte sie. »Ein Auto hat mich mitgenommen. Aber wir sind liegengeblieben.«
Jan nickte fast unmerklich, als er leise sagte: »Ich konnte mich kaum noch bewegen vor Angst um dich. Hätte ich nicht dein Handy gehabt, um Hilfe rufen zu können … Du musst bei mir bleiben, Irina. Bitte …«
Irina legte einen Finger auf seine Lippen und betrachtete ihn zärtlich. Er war so erschöpft von seiner Suche nach ihr. Fast erfroren vor Verzweiflung. Wahrscheinlich liebte er sie. Bestimmt tat er das, wieso sonst hätte er nach ihr suchen sollen? Sie strich ein letztes Mal über Jans Wangen, während er wieder eindämmerte und lehnte behutsam ihren Kopf an seine Schulter.
Als der Wagen startete, um sie zurück zu Milo zu bringen, kroch sie zu ihrem Platz und schloss die Augen.
Sie würde nach ihrem Kurztrip mit Milo entscheiden, wie es weitergehen sollte. Bis dahin musste Jan warten. Einen entspannten Urlaub hatte sie jedenfalls bitter nötig.
***
Katelyn Faith – Die Nacht der Ringe
Mein Herz klopft so schnell, dass ich es im Kehlkopf spüre. Da ist er drin! Ich bin mir sicher, dass er ihn hier versteckt hat. Oh Gott, wenn ich nur nicht so furchtbar aufgeregt wäre. Er wird sofort merken, dass ich etwas ahne, und dann verderbe ich ihm womöglich die Überraschung.
»Emma?«
» Hm? Hast du was gesagt?« Ich starre auf die Porzellanschale mit dem köstlich nach Schokolade duftenden Dessert, als ob ich den süßen Nachtisch hypnotisieren wollte, und traue mich kaum, Jason anzusehen. Mein rechter Fuß wippt auf und ab, mit der linken Hand umklammere ich schon den Löffel. Begierig auf die Süßigkeit und das, was sich hoffentlich darunter verbirgt.
» Emma, sieh mich an.« Irritiert hebe ich den Kopf, bis unsere Blicke sich treffen. Jason wirkt amüsiert, ein Mundwinkel ist nach oben verzogen und sein Kopf ist leicht geneigt. Mann, ich wusste, dass er mir auf die Schliche kommen würde. Aber er hätte es vielleicht besser verstecken müssen! Ich meine, warum sonst hätte er mich an unserem Halbjahrestag in das sündhaft teure Restaurant eingeladen, wenn nicht, um mir …
» Spatz, ist alles in Ordnung?«, fragt er, jetzt schwingt doch etwas Besorgnis in seiner Stimme mit. Wie immer muss ich über den seltsamen Kosenamen lachen, den er mir verpasst hat. Spatz … hervorgerufen durch meine Eigenart, nur noch sehr wenig zu essen, seitdem wir zusammen sind.
Und da Jason es nicht ertragen konnte, dass ich seinetwegen meine Rundungen verliere, haben wir häufig getrennt voneinander gegessen. Albern, aber effektiv. Erst seit ein paar Wochen kriege ich ihm gegenüber wieder vernünftige Portionen runter, vorher schien mein Magen wie
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