Liebe Hoch 5
Jahre älter als Jan und mit Kinderwunsch. Ein Typ mit einem sicheren Job, angestellt beim Staat.
»Ich brauche Sicherheit«, hatte Irina gesagt. »Ich will unbedingt Kinder.« Und das mit dreiundzwanzig.
In seiner Vorstellung war nur Platz für zwei gewesen. Wenigstens hätte sie drei, vier Jahre warten können, bis er als Maler erfolgreich war. Aber dann machte dieser Scheißtyp ihr ein Kind und nahm ihm seine Inspiration.
Sie sitzt im Bus und keiner hat ein Handy dabei , dachte er. Jan stand vom Tisch auf, steckte sein Shirt in die Hose und schloss seinen Gürtel. Er zog sich einen Pulli über, dann den Parka mit der großen Kapuze. Vielleicht war es draußen gar nicht so schlimm, wie es zunächst schien.
Sein letzter Blick in die Loggia sagte allerdings etwas anderes.
Irina saß auf dem Rücksitz eines Kleinwagens, der nur wenige hundert Meter hinter der Bushaltestelle liegengeblieben war. Ihre Zehen hatten aufgehört zu schmerzen, seit sie die Schuhe ausgezogen und sich die Füße zwischen die Kniekehlen geklemmt hatte. Der Fahrer, von dem sie inzwischen wusste, dass er Herbert Schmitz hieß und mit einer Schachtel Pralinen auf dem Weg zu seinen gebrechlichen Eltern war, hatte zuerst die alte Dame nach Hause bringen und anschließend Irina zur S-Bahn fahren wollen. Er erzählte gerade, dass er geschieden sei. Er hatte angehalten, als Irina winkend auf seinen Wagen zugesprungen war. In der Hoffnung auf Wärme und ein Handy.
»Warum sind Sie geschieden?«, fragte Ottilie Kowalski, die alte Frau, die aus dem Bus ausgestiegen war und ebenso wie sie im Bushäuschen darauf gewartet hatte, dass es endlich aufhörte zu schneien. Sie hatte Irina angefleht, sie nicht allein zu lassen, sondern mit ihr auf das nächste Auto zu warten, das sie sicher zurück nach Giersdorf bringen würde.
Doch jetzt lag Frau Kowalskis kleines Bäumchen neben Irina auf dem Rücksitz und verbreitete einen weihnachtlichen Duft. Herbert Schmitz hingegen roch nach ranzigem Fett.
Ihr war schlecht.
»Ich wurde arbeitslos«, beantwortete Herbert Schmitz Frau Kowalskis Frage nach dem Scheidungsgrund. Und dann schwiegen sie alle drei, lauschten Dean Martins Weihnachtsspecial und dem Rhythmus der Scheibenwischer, die auf der Windschutzscheibe ein Guckloch hinterließen, das sich jeden Moment zu schließen drohte. Die Scheibenwischer würden das nicht mehr lange mitmachen. Im Übrigen schürte die Musik Irinas Bedürfnis zu schreien. Zuerst hatte sie sich gefragt, ob möglicherweise alles ein Albtraum sein könnte. Die Situation an der Haltestelle, dort an diese wildfremde Frau gepresst zu sitzen, sich gegenseitig vor den Schneewehen zu schützen, die sich auf den Wangen anfühlten wie Nadelstiche. Und dann der dampfende Urin, den Frau Kowalski in einer Ecke des Häuschens hinterlassen hatte. Irina hatte ihren Mantel gehalten und so gut wie möglich versucht, der Rentnerin Erfrierungen an den Beinen oder an schlimmeren Stellen zu ersparen. Wenigstens saßen sie jetzt in diesem alten VW-Polo, dessen Heizung röhrte und dessen Fahrer über kein Handy verfügte. Ein Handy konnte er sich nicht leisten, »Tut mir leid«.
Ihr tat es auch leid, verdammt leid sogar! Dass es Prepaid Karten gab, billige Handys, noch dazu günstige Deos oder Duschgels, all das lag Irina auf der Zunge. Nicht zu reden von Winterreifen, die sie vielleicht noch rechtzeitig in die Nähe der S-Bahn oder Frau Kowalskis geheizter Wohnung gebracht hätten. Wenigstens war der Tank halb voll und sie hatten es warm. Wieder und wieder ging sie in ihrem Kopf die Szenen durch, die sich in diesem Moment zu Hause abspielen mochten: Milo, der mit den Jungs am Fenster stand und auf sie wartete. Die Schwiegereltern saßen vermutlich am Tisch und trommelten mit ihren Fingern auf die weihnachtlich dekorierte Tischplatte. Verärgert darüber, dass ihre Schwiegertochter an einem solchen Tag arbeitete . Wahrscheinlich hatte Milo inzwischen im Café angerufen und gehört, dass sie heute gar nicht eingeteilt war. Weil sie doch Mutter war und verheiratet. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm das jemals erklären sollte.
»Was verschlägt Sie eigentlich am Heiligen Abend nach Giersdorf?«, fragte Frau Kowalski eben und Herbert Schmitz musterte sie neugierig durch den Rückspiegel.
»Ich habe einen Geliebten in Giersdorf«, antwortete Irina und blickte stur geradeaus durch das winzige Guckloch auf der Windschutzscheibe. Wenn sie zum Seitenfenster sah, bekam sie einen klaustrophobischen
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