Liebe im Gepäck (German Edition)
Mit einem Schlag war all die Wut verflogen und machte einer stillen Heiterkeit Platz.
»He, Harry«, sagte eine Stimme in ihm, »was machst du hier eigentlich? Grade eben warst du noch gelangweilt. Dann stinksauer. Und jetzt fühlst du dich mit einem Mal so unbeschwert?«
Harry winkte seinem Spiegelbild im Treppenhausfenster zu. Er hatte das Rad verlassen, in dem er die letzten Jahre wie eine dressierte Ratte gelaufen war. Und nun stand er da, noch etwas unsicher, wie sich das Leben außerhalb dieses Rades anfühlte.
Der nächste Weg jedenfalls war, seine Garderobe aufzusuchen. Sie lag im zweiten Stock, und er hatte das Glück, dass sie sich unweit vom Treppenhaus befand. Vorsichtig steckte er den Kopf durch den Türspalt, spähte in den langen Gang. Eine Frau verschwand soeben auf der Toilette. Sonst war niemand zu sehen.
Seine Garderobe war leer. Man hatte ihn offensichtlich noch nicht so bald zurückerwartet. Seine Gespräche mit Anuschka im VIP-Raum dauerten sonst mindestens doppelt so lange wie heute. Da stand er also in seinem auffälligen weißen Anzug und beäugte sich kritisch im Spiegel. Es war nicht wirklich eine bewusste Handlung, es war mehr ein Reflex, dass er zur Schere griff und mit einem energischen Schnitt den Spitzbart abschnitt. Sein lang gepflegtes, lang gehegtes Markenzeichen landete im Müll. Na, bitte, ein erster Schritt in die Zukunft war getan.
Allerdings kein gut überlegter. Denn wo sollte er nun Rasierzeug herbekommen, um auch noch die letzten Reste des ehemaligen Markenzeichens zu entfernen? So konnte er sich nirgends sehen lassen, er sah mehr als seltsam aus. Auch unter den Utensilien der Maskenbildnerin fand sich kein Rasierer. Harry seufzte. Es half alles nichts: Mit der Schere kürzte er die Bartstoppeln, so gut es ging. Dann kontrollierte er den Inhalt seiner Hosentasche: Seine Geldbörse war da. Mit allen Kreditkarten.
Er schlüpfte aus dem weißen Sakko und legte es über den Arm. Vielleicht waren das weiße Hemd und die weiße Hose weniger auffällig als der ganze Anzug.
Kurz überlegte er, die schlichte braune Jacke zu nehmen, die irgendjemand über die Lehne des Maskenstuhls gehängt hatte. Mit ihr würde er wenig Aufsehen erregen. So schnell ihm dieser Gedanke gekommen war, so schnell verwarf er ihn wieder. Was hätte das erst wieder für ein Aufsehen erregt! Der reiche Seeberstein stahl eine Jacke! Er musste grinsen: Was würde Anuschka wohl zu so einer Schlagzeile sagen?
Auf dem großflächigen Bildschirm, der an der Stirnwand jeder Garderobe angebracht war, flimmerte das aktuelle Programm des Senders. Zurzeit lief ein Zeichentrickfilm für Kinder. Der Beginn eines Sportmagazins wurde angekündigt.
Entschlossen trat Harry auf den Gang hinaus. Er wusste jetzt genau, was er machen würde: Dasselbe, was er in den letzten vierunddreißig Jahren immer gemacht hatte, wenn er nicht mehr weiter wusste oder wenn er jemanden zum Reden brauchte oder einfach nur unbeschwert Spaß haben wollte. Er würde zu Matthias fahren, seinem »kleinen« Bruder. Hatte er wirklich gestern Nachmittag noch gedacht, Anuschka sei ihm wichtiger als Matthias?
Auf dem Flur begegneten ihm einige Leute. Sie eilten hektisch von einer Tür zur nächsten, niemand nahm Notiz von ihm. War es wirklich so, dass sie ihn nicht erkannten? Ohne Spitzbart und ohne die dunkle Sonnenbrille,auf die Anuschka immer so großen Wert gelegt hatte, um sein Inkognito zu wahren? Wie es schien, hatte dieser modische Schnickschnack genau den gegenteiligen Effekt. Trüge er die Sonnenbrille, hätte man ihn sicher längst angesprochen.
Die Auffahrt zum Funkhaus war menschenleer.
Der Pförtner am Eingang hob den Blick und sein Gesicht verzog sich zu einem freundlichen Lächeln: »Guten Tag, Herr Seeberstein, heute zu Fuß unterwegs?«
Harry winkte ihm einen kurzen Gruß zu: »Guten Tag, ja, kurz etwas Luft schnappen.« Er nahm das Sakko lässig über die Schulter und verließ das Gelände des Senders.
Ein Taxi war schnell gefunden: »Berthold-Brecht-Weg 54«, sagte er dem Fahrer und ließ sich in die weichen Lederpolster der Rückbank fallen.
Während der Fahrt schaute Harry durch die schmutzigen Scheiben, als sähe er die Stadt zum ersten Mal. Er hatte vieles heute zum ersten Mal getan: Er hatte die Tür zwischen sich und Anuschka zugeschlagen, er hatte seinen Bart abgeschnitten, und er war durch den Vorderausgang des Sendehauses gegangen, ohne Leibwächter. Was hatte Anuschka im stets eingebläut? »Tu das nie, Harry,
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