Liebe im Zeichen des Nordlichts
dass sie von ihm hören würde. Sie spürte ihn noch immer auf jedem Zentimeter ihres Körpers. Die Erinnerung an ihn brannte noch auf ihrer Haut. Doch ihre Zuversicht schwand.
Als sie heute Morgen mit dem Hund im Park gewesen war, hatte sie sich gefühlt wie eine Frau, die geliebt wird. Wie eine errötende Braut. Für sie war es selbstverständlich gewesen, dass er anrufen würde. Eindeutig, dass das ein Anfang war. Doch inzwischen erschien ihr schon der heutige Vormittag ganz weit entfernt. Allmählich kam sie sich wie eine Idiotin vor. Es war kurz vor fünf. Er würde nicht anrufen.
Auf einmal konnte sie den Gedanken nicht ertragen, nach unten in die Wohnung zu gehen und ihre Schwimmsachen zu holen. Die Vorstellung, den ganzen Abend dort herumzusitzen, nur sie selbst, der Fernseher und der kleine Hund. Allein der Gedanke, dass ihr Leben wieder so aussehen würde wie vor ihrer Begegnung, war entsetzlich.
Sie lief die Treppe hinunter, öffnete die Tür der Souterrainwohnung und rief nach Lola. Sie setzte nicht einmal einen Fuß hinein und griff auch nicht nach ihrem Mantel, sondern hielt die Tür nur so lange, dass Lola hinausschlüpfen konnte, und knallte sie zu, als lauere drinnen etwas Böses. Nachdem sie Lola auf den Rücksitz verfrachtet hatte, setzte sie sich ans Steuer und drehte den Zündschlüssel um.
Während sie den Rückwärtsgang einlegte, blickte sie hinauf zum Fenster. Und da war er, den Hals gereckt wie eine verwirrte Giraffe, um zu ihr herunterschauen zu können. Als sie winkte, erwiderte er die Geste. Die Hand im dicken Gipsverband wackelte auf seinem Arm. Sie rollte rückwärts aus der Ausfahrt, das Auge starr auf den Rückspiegel gerichtet, das Herz schwer von einer zähen Masse aus Liebe und Schuldgefühlen.
Er beobachtete, wie sie losfuhr; sein Blick folgte dem kleinen Auto bis zur Straße. Sie wartete auf eine Lücke im Verkehr und fädelte ein. Nachdem sie sich rechts eingeordnet hatte, bewegte sie sich mit dem Verkehrsstrom in Richtung Süden.
Wenige Sekunden später hatte er sie aus den Augen verloren.
Er ließ den Kopf an die Sessellehne sinken und schloss die Augen. Er konnte sich nicht erinnern, dass er sich jemals so mutlos gefühlt hatte.
Der Termin stand fest, so war es in dem Brief zu lesen. Die Unterlagen waren komplett, ein dicker Stapel Fotokopien, zusammengehalten von einer überdimensionalen Büroklammer. Hugh hatte den Brief erwartet. Er hatte gewusst, dass er eines Tages eintreffen würde. Doch er hatte wider alle Wahrscheinlichkeit gehofft, dass man die Sache fallenlassen würde. Vielleicht würden sie ja nicht die Kraft haben, den Kampf durchzufechten. Oder sie würden endlich zur Vernunft kommen und von ihrem Vorhaben Abstand nehmen.
Natürlich hätte ihm klar sein müssen, dass diese Wahrscheinlichkeit bei null lag. Es würde weitergehen bis zum bitteren Ende.
Er wurde von einer tiefen Erschöpfung ergriffen.
Zusammengesackt saß er an seinem Schreibtisch und ließ schicksalsergeben die Schultern hängen. Sein Kopf fühlte sich groß und schwer an, so als sei sein Gewicht zu viel für seinen Hals. Er kam sich vor wie ein christlicher Märtyrer, der darauf wartete, den Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden.
Die Zeitungen würden sich darauf stürzen, das war ihm klar. Die Angelegenheit hatte alles, was eine gute Story ausmachte. Eine junge Mutter, gestorben vor ihrem dreißigsten Geburtstag. Zwei kleine Kinder, die nun niemanden mehr hatten, der sie versorgte. Ein Ehemann mit gebrochenem Herzen, der mühsam den Lebensunterhalt verdiente. Ein zorniges Elternpaar, das nach Rache schrie. Ein Routineeingriff, würden die Zeitungen schreiben, ein sinnloser Tod. Sie würden Hugh als angesehenen Professor schildern. Und in sorgfältig formulierten Artikeln würden sie andeuten, dass es noch einiges mehr über ihn zu sagen gäbe, was jedoch aus juristischen Gründen nicht möglich sei.
Sobald Einzelheiten des Falls ans Licht kämen, würde eine öffentliche Debatte stattfinden. Man würde neue Qualitätsstandards fordern. Die Menschen würden ein solches Verhalten als nicht mehr zeitgemäß anprangern. Sie würden vom Gesundheitsministerium eine Veröffentlichung medizinischer Abläufe und neue Richtlinien für den Umgang mit Patienten und unerfahrenen Mitarbeitern verlangen. Es würde heißen, das Patientengespräch müsse mehr in den Vordergrund rücken, und man würde vorschlagen, auch diesen Punkt in die Richtlinien aufzunehmen.
Und man würde sagen, dass der
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