Liebe im Zeichen des Nordlichts
Zeitpunkt der Wachablösung gekommen sei.
Die schwierigste Zeit seines Lebens.
Nicht dass es nicht auch schon früher schwere Zeiten gegeben hatte, natürlich hatte es das. Nur dass er der Herausforderung bis jetzt immer gewachsen war und das Problem aus der Welt geschafft hatte. Er war schon immer ein anpackender Mensch.
Er ist jetzt vierundsechzig; das bedeutet, dass er seine Laufbahn als Mediziner vor sechsundvierzig Jahren begonnen hat. Er kann nicht anders, als diese Symmetrie zur Kenntnis zu nehmen. Sie hat etwas Ordentliches. Wenn er bis zu seiner Pensionierung weitermacht, wird sie verlorengehen. Aber er weiß in seinem Herzen, dass er nicht so lange durchhalten wird.
Das ist dann also der Dank. Vierzig Jahre, in denen man fünfzig Wochen pro Jahr gearbeitet hat. Zwölf-Stunden-Tage, Vierzehn-Stunden-Tage. Samstage, Feiertage. Selbst an Weihnachten hat er Visite gemacht. Das war ihm wichtig. Er hat sogar seine Töchter mitgenommen. Anrufe mitten in der Nacht. Patienten mit allen möglichen Komplikationen. Konferenzen und alberne Fallbesprechungen. Nie hat er sich über die Belastung beklagt und stets getan, was nötig war. Er war gerne Arzt, schon immer. Der Klang des Wortes begeistert ihn noch heute.
Wenn man nur in Ruhe Arzt sein und seinen Beruf ausüben dürfte! Aber nein, man musste inzwischen auch noch ein dämlicher Psychologe sein. Und außerdem ein Sozialarbeiter. Regelrecht verhören lassen musste man sich. Die Leute hatten zu viele Arztserien im Fernsehen gesehen und lasen alles Mögliche im Internet. Und dann wollten sie alles über die verfügbaren Alternativen wissen.
Es gibt immer Alternativen, pflegte er dann gerne zu sagen. Und zwar folgende. Wir können Ihre Mutter so gut wie möglich behandeln. In diesem Fall stehen die Chancen hoch, dass sie überlebt. Oder sie kann sich gegen eine Behandlung entscheiden, was heißt, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stirbt.
Nur wenige Menschen wussten diese Offenheit zu schätzen. Einige beschwerten sich sogar über ihn. Sie hatten einfach keinen Sinn für Humor mehr und erkannten einen Scherz nicht.
Er hingegen versteht ihre Sprache nicht und hat keine Ahnung, woher sie diese Ausdrücke haben. Sie reden über ärztliche Bereitschaft 24 / 7 , über interdisziplinäres Denken, über Qualitätszeit. Inzwischen werden Patienten schon als »Klienten« bezeichnet. Du liebe Güte! Sie reden über Dienstleister und Therapieresultate. Das alles hört sich nach ausgemachtem Unsinn an, aber wenn man das laut ausspricht, erntet man nur entrüstete Blicke. Alle machen das Spiel mit. Keiner wagt es, die Wahrheit zu sagen.
Offenbar schaffen sie es nicht einmal mehr, die Krankenhäuser sauber zu halten. Es wimmelt nur so von Krankenhauskeimen, und die Schwestern sind sich zu fein, die Bettpfannen zu wechseln. Nun, was ist auch anderes zu erwarten, wenn man die Leitung eines Krankenhauses den Controllern überlässt? Diesen Erbsenzählern. Man sollte die Nonnen zurückholen, das fordert er schon seit Jahren. Verdammt noch mal, die Nonnen wussten, wie man ein Krankenhaus führt!
Er weiß, dass er wie ein altmodischer, verknöcherter Opa klingt. Und ihm ist klar, dass er das Verfallsdatum überschritten hat. Trotzdem hat er gehofft, noch über die Ziellinie hinken zu können.
Seit einer Weile schon graut ihm vor der Pensionierung. In letzter Zeit denkt er immer öfter darüber nach. Ein Teil von ihm ist gegen ein Abschiedsessen und das ganze Theater. Dann wieder ertappt er sich dabei, wie er seine Rede probt. Er stellt sich vor, wie er aufsteht und mit einem Löffel an sein Glas klopft. Es wird totenstill im Raum. Er blickt den Tisch entlang und sieht … wen sieht er denn?
Wer würde zu seiner Abschiedsfeier kommen? Wen möchte er überhaupt dabeihaben? Wenn er die Gesichter seiner Kollegen an seinem geistigen Auge vorbeiziehen lässt, wird ihm bewusst, dass er keinen einzigen von ihnen als Freund betrachtet. Noch nie ist er mit einem einen trinken gegangen. Er war noch nie bei einem zu Hause eingeladen. Und es wäre ihm auch nicht in den Sinn gekommen, eine Einladung auszusprechen. Schließlich hatte er keine Frau, die sich mit den Frauen der Kollegen hätte anfreunden können. Keine Frau, die eine der Karriere förderliche Abendeinladung organisierte. Und natürlich ist er nie zu einem dieser Ärzteempfänge gegangen. Oh, Gott, wie er solche Veranstaltungen hasste!
Er hätte Golf spielen sollen. Aber wie denn? Er hatte ja zwei
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