Liebe im Zeichen des Nordlichts
wird, während sie durchs Wasser stapft. Und es ist nicht zu übersehen, dass sie auf diesem Foto absolut zufrieden und in ihre eigene Welt versunken ist.
Inzwischen fühlt sich Addie dem kleinen Mädchen wieder so nah wie schon seit Jahren nicht mehr. Sie spürt, wie das Wasser um ihre Knöchel schwappt. Sie erinnert sich an das feuchte Höschen, weil sie hineingepinkelt hat. Das Brennen von Pisse und Salzwasser an der Stelle, wo die Oberschenkel aneinander rieben. Den nassen Saum ihres Kleides, der an ihren Waden klebte. Den exotischen Geschmack von Vanilleeis, und wie das seitlich heruntertropfende Eis das Hörnchen durchweichte. Zu ihrer Überraschung fällt ihr wieder ein, wie glücklich es sie gemacht hat, allein zu sein.
»Ich liebe dich auf diesem Foto.«
Das verkündete er glücklich und in einem unbeschreiblich lockeren und fröhlichen Ton. Dann ging er ins Bad und schloss die Tür hinter sich.
Addie blieb, ein Grinsen auf dem Gesicht, im Flur zurück.
Sie wusste, was er damit gemeint hatte, und verstand den Zusammenhang. Doch es war das erste Mal, dass ein Mann – ganz gleich, in welchem Zusammenhang – ihr gesagt hatte, dass er sie liebte.
Das Foto, das von ihr im gelben Kleid, entstand am Tag der Beerdigung ihrer Mutter. Addie weiß das nicht, ganz im Gegensatz zu Della, die es noch gut im Gedächtnis hat. Manchmal hat Della den Eindruck, dass sie sich an alles erinnert und dass dieses gute Erinnerungsvermögen ein Fluch ist.
Damals gehörte es sich nicht, Kinder zu Beerdigungen mitzunehmen. Es galt als unschicklich. Deshalb hat sich eine Nachbarin um sie gekümmert, eine Frau, die sie kaum kannten. Sie ist mit ihnen an den Strand gegangen. Bis heute erinnert sich Della daran, wie zornig sie war, weil sie nicht zur Beerdigung durfte. Sie erinnert sich nicht mehr, ob sie um ihre Mutter getrauert hat, nur daran, dass sie unbedingt zur Beerdigung wollte.
Sie erinnert sich, dass sie geschmollt hat. Sie erinnert sich, dass Eis gekauft wurde. Sie erinnert sich, dass sie sich geweigert hat, es zu essen. Sie erinnert sich daran, wo sie saß, als die Fotos entstanden. Auf den Felsen, wo sie zusah, wie Addie mit den Nachbarskindern in den Pfützen herumtollte. Als die Nachbarin sie fotografieren wollte, hielt sie die Hände vors Gesicht.
Und wenn es um ihr Leben ginge, der Name dieser Nachbarin würde Della nicht mehr einfallen. Wahrscheinlich war der Ausflug zum Strand gut gemeint gewesen. Allerdings fragt Della sich mittlerweile, welcher Teufel sie geritten haben mag, diese Fotos zu machen. Damit sie den Tag der Beerdigung ihrer Mutter nicht vergaßen? Oder hat sie einfach fotografiert, weil sie zufällig eine Kamera dabeihatte, weil es ein sonniger Tag war und weil zwei niedliche kleine Mädchen in hübschen Kleidern am Strand spielten? Della würde das interessieren.
Schließlich ist sie ein Bücherwurm und immer auf der Suche nach einer Geschichte.
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Kapitel 16
B runo hatte angefangen, einen Familienstammbaum anzulegen.
Auf dem Papier sah er zunächst aus wie ein Baum im Winter, kahl und mit nackten Ästen, die in freien Feldern endeten. Es fehlten noch Laub, Farbe und Leben. Nur außen links auf der Seite wies schon etwas auf Wachstum hin. Bruno hatte bei seinem Großvater angefangen und ein System gerader Linien und ordentlicher Kästchen angelegt, das durch die verschiedenen Generationen abwärts führte. In die Kästchen hatte er mit winzigen ordentlichen Buchstaben die Namen seines Vaters, seiner Mutter, seiner Schwestern, ihrer Ehemänner und all seiner Nichten und Neffen eingetragen. Unter den Namen standen die Geburtsdaten und, wenn zutreffend, der Todestag. Bei seinem Vater hatte er auch das Jahr der Auswanderung vermerkt. Seine Tante Nora war seinem Vater zwei Jahre später gefolgt. Geboren 1926 , schrieb er unter Noras Namen. Ausgewandert 1950 . Gestorben 1990 .
Es schwarz auf weiß zu sehen löste Gefühle in ihm aus. »Ich stamme aus einer Familie von Pionieren!«, teilte er Addie mit. »Darauf bin ich sehr stolz.«
»Ach, herrje«, erwiderte sie, ein wenig abfällig, während sie sich über seine Schulter beugte, um das Werk in Augenschein zu nehmen. »Das erinnert mich an die Romane, an deren Anfang ein Familienstammbaum steht. Ständig muss man zurückblättern, damit man nicht den Überblick verliert, wer wer ist. Ich finde das schrecklich langweilig und gebe meistens auf, wenn es zu kompliziert wird.«
Addie war ihm bei seinem Familienstammbaum keine große
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