Liebe im Zeichen des Nordlichts
Hilfe. Sie kannte nicht einmal den Namen ihres Großvaters. »Er war Schiffsarzt, glaube ich. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn überhaupt kennengelernt habe.«
»Aber du musst doch wissen, wie er geheißen hat.«
»Vermutlich Murphy, oder? Soundso Murphy, nehme ich an.«
Also notierte Bruno »Murphy« und setzte ein Fragezeichen dahinter.
»Wir könnten deinen Dad fragen. Der weiß es doch sicher.«
Addies Blick verfinsterte sich bei dem bloßen Gedanken.
»Er redet nicht gern über die Vergangenheit. Ich halte es für keine gute Idee, das Thema aufs Tapet zu bringen.«
»Ich brauche doch nur ein paar Namen«, beharrte Bruno. »Wenn ich die erst einmal habe, komme ich alleine klar.«
»Gut, meinetwegen«, erwiderte Addie, »ich spreche ihn darauf an. Aber ich würde mir keine allzu großen Hoffnungen machen.«
Erst jetzt wird Bruno klar, dass er sich überhaupt nicht vorbereitet hat.
Er hätte Vorarbeiten leisten sollen. Vor seiner Abreise aus New York hätte er mit seinen Schwestern reden müssen. Sie alle um einen Tisch versammeln und sie in ihrem Gedächtnis kramen lassen. Aber natürlich hat er das nicht getan. Er ist überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen. Aus irgendeinem Grund hat er geglaubt, dass seine Suche erst hier beginnen würde.
»Ich rate den Leuten immer, mit alten Familiengeschichten anzufangen«, sagte der Ahnenforscher von der National Library. »Es ist erstaunlich, was ihnen wieder einfällt, wenn sie sich damit befassen. Kramen Sie in Ihrem Gedächtnis. Dann werden Sie vermutlich feststellen, dass Sie das Gerüst Ihrer Vergangenheit schon beisammen haben.«
Der Ahnenforscher, ein magerer Mann in einem makellos gebügelten Hemd, hatte Bruno begrüßt wie einen alten Freund und ihm an einem großen Tisch in einem Raum auf halber Höhe der geschwungenen Treppe einen Platz angeboten. Rings um sie herum herrschte Bibliotheksstille. Dennoch senkte der Ahnenforscher nicht die Stimme und bewegte sich durch das Schweigen, als nehme er es gar nicht zur Kenntnis. Er verhielt sich professionell wie ein Arzt, der in einer Station eines Krankenhauses seiner Arbeit nachgeht.
»Jede Kleinigkeit, die Ihnen in den Sinn kommt«, fuhr er fort. »Das ist wie Goldstaub. Dinge, die Ihr Vater über seine Familie erzählt hat. Vielleicht hat er ja darüber geredet, was Ihr Großvater von Beruf war oder woher Ihre Großmutter stammte. Wenn Sie diese Informationen miteinander verknüpfen, führt ein Hinweis zum anderen.«
Bruno notierte sich alles in das in Leder gebundene Notizbuch, das er eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Nun benutzte er es zum ersten Mal.
»Wenn Sie diese Grundlagen erst mal beisammen haben, können Sie sich an die amtlichen Archive wenden. Geburten, Eheschließungen, Todesfälle. Natürlich würde es die Sache gewaltig erleichtern, wenn Sie Daten hätten. Wann sind Ihre Vorfahren denn ausgewandert?«
»In den späten Vierzigern«, antwortete er.
»Wenn wir davon ausgehen, dass sie katholisch waren, müssen Sie sich an die Kirchenbücher halten. Behördliche Registrierungen gibt es erst seit 1864 …«
Bruno unterbrach ihn. »In den Vierzigern des 20 . Jahrhunderts. Mein Vater ist in den Vierzigern des 20 . Jahrhunderts ausgewandert.«
Der Ahnenforscher machte ein erstauntes Gesicht. »Dann müssten ja viele Beteiligte noch leben«, stellte er fest. »Dass es noch Zeitzeugen gibt, ist ausgesprochen hilfreich.«
Kurz wurde Bruno von einem Augenblick aus der Vergangenheit überwältigt. Seine Erinnerung daran war sehr vage, und er befürchtete schon, dass sie sich verflüchtigen würde, ehe er sie zu fassen bekam, wie Musikfetzen aus dem offenen Fenster eines vorbeifahrenden Autos.
Bruno hat das Bild vor sich, wie er bei jemandem die Veranda streicht. Er taucht den Pinsel in die Lackdose und streift den überschüssigen Lack am inneren Rand ab, damit keine Nasen entstehen. Es war kein besonders guter Pinsel. Immer wieder musste er innehalten, um ausgefallene Borsten aus dem feuchten Lack zu pflücken. In diesem Fall musste man die Stelle noch einmal überstreichen, damit sie wieder glatt wurde. Er weiß noch, wie wichtig es ihm war, dass alles glatt war. Schließlich würde sein Dad vorbeikommen, um das Ergebnis zu überprüfen.
Im nächsten Moment stand seine Schwester hinter ihm. Sie sagte, er müsse sofort nach Hause. Unsere Großmutter ist gestorben, sagte sie. Dad möchte, dass wir alle in die Kirche gehen und für sie beten. In welchem Jahr war das wohl
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