Liebe im Zeichen des Nordlichts
waren wegen der Gipsverbände hochgekrempelt.
»Wie geht es dem englischen Patienten?«, hatte sie sich bei ihrer Ankunft forsch erkundigt.
Er hatte den Scherz mit einem Brummeln zur Kenntnis genommen.
»Ach, ich sieche so langsam vor mich hin.«
Als sie sich über ihn beugte, um ihn zu küssen, bemerkte sie neben seinem Ohrläppchen einen Tupfen eingetrockneten Rasierschaums, den sie mit dem Fingernagel entfernte. Er stieß mit dem Gips ihre Hand weg.
»Du könntest mal vor die Tür gehen.«
Sie schlug ihren Oberschwester-Tonfall an, nur um ihn zu ärgern.
»Du könntest einen Ausflug ins Dorf machen. Ein bisschen frische Luft würde dir guttun. Es ist ein wunderschöner Tag.«
Sie betrachtete ihn mit Unschuldsmiene und wartete auf seine Antwort. Er blickte sie nur finster an und kam auf sein ursprüngliches Thema zurück.
»Die einzige Erklärung wäre, dass er sich im Schutz der Dunkelheit ins Haus schleicht.«
Della stand da und musterte ihn. Er hat zugenommen, dachte sie. Über das Taillenbündchen seiner Trainingshose quoll ein Rettungsring, der vorher nicht da gewesen war. Das viele Herumsitzen, sagte sie sich. Und der viele Whiskey.
Der Stapel von Dokumenten neben dem Schreibtisch wuchs täglich. Sprich ihn nicht darauf an, dachte Della, sprich ihn nicht darauf an.
»Die Sache ist«, versuchte er es mit einer Erklärung, »dass mich der Bursche inzwischen neugierig macht. Ich hätte nichts dagegen, ihn kennenzulernen.«
Aber Della hatte kein Mitleid.
»Tja, Hugh«, entgegnete sie. »Das hast du dir ganz allein eingebrockt.«
Da kein Treffen stattfindet, malt er sich eben eines aus. Den ganzen Tag verharrt er am Fenster, schaut aufs Meer hinaus, ohne etwas zu sehen, und probt hitzige Debatten mit einem nicht anwesenden Gegner.
Er schätzt ihn als Obama-Anhänger ein. Das erkennt ja ein Blinder.
»Ich persönlich unterstütze ja McCain«, wird er ihm sagen. »Dieser Obama hat überhaupt keine Erfahrung und ist ein unbeschriebenes Blatt. Für so jemanden ist die Lage zu ernst. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für einen Amateur.«
Wenn der Amerikaner nicht auf den Kopf gefallen war, würde er sich dem Duell stellen und Spaß an einer richtigen Diskussion haben.
»Er ist fotogen, das muss ich zugeben. Im Fernsehen macht er einen guten Eindruck. Aber hier in Europa wählen wir unsere politische Führungsriege nicht nach dem Aussehen.«
Er würde nett zu ihm sein, leutselig. Doch er würde ihn, was seine Auffassung anging, nicht im Dunkeln lassen.
»Amerika«, verkündete er. »Ich gebe Amerika die Schuld.«
Die beiden Anwälte wechselten beklommene Blicke.
»Daher kommt doch diese Mode.« Inzwischen war sein Gesicht gerötet, und die Haare standen ihm zu Berge. Er beugte sich vor. Die Gipsverbände ruhten auf dem auf Hochglanz polierten Konferenztisch.
»Diese gottverdammte Prozesskultur ist ein amerikanischer Import. Ein tödlicher Giftcocktail aus politischer Korrektheit, Klagewut und schlicht und ergreifend Habgier. Eine gefährliche Sache! Glauben Sie mir, irgendwann wird kein Arzt mehr seine gottverdammte Arbeit machen können!«
Er hielt inne, um Luft zu holen, worauf der für die unteren Instanzen zuständige Anwalt das Wort ergriff. Der Mann sprach stockend, auch wenn man es noch nicht ganz als Stottern bezeichnen konnte.
»Ich verstehe Ihre Haltung, Professor Murphy. Und ich muss zugeben, dass ich Ihren Standpunkt gut nachvollziehen kann. Allerdings fürchte ich, dass wir angesichts der … Tatsachen mit kulturkritischen Anmerkungen nicht weit kommen werden. Gegen Sie sind eindeutige Vorwürfe erhoben worden. Also werden wir gezwungen sein, ihnen in allen Einzelheiten zu widersprechen.«
Hugh machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Die Medizin ist keine exakte Wissenschaft«, entgegnete er. »Das ist es, was Laien einfach nicht akzeptieren können. Das Leben selbst ist keine exakte Wissenschaft, verdammt!«
Seine blauen Augen loderten und waren blutunterlaufen. Er fuchtelte mit dem rechten Gipsverband herum.
»Ich habe Neuigkeiten für Sie«, fuhr er fort. »Uns sterben manchmal die Patienten weg! Alte Menschen sterben, junge Menschen sterben. Ja, sogar Kinder sterben, zum Teufel noch mal. Und hin und wieder können wir nicht viel dagegen tun.«
Der Anwalt bekritzelte das Deckblatt der eidesstattlichen Erklärung und warf seinem für die höheren Instanzen zuständigen Kollegen einen verzweifelten Blick zu. Dieser zuckte kaum merklich mit den Schultern. Hugh
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