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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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selbst. Ein einziges Mal hatte sie so gegessen, in einem Urlaubshotel in Tunesien, da hatte man sie und Renz beim Frühstück nebeneinandergesetzt, weil das andere Paar am Tisch so sitzen wollte, und nach zwei Tagen war Renz der Kragen geplatzt, sie konnten nur noch abreisen. Der Blumenkohl war frisch, auch die Kartoffeln, sie aß alles auf und trank den Tee, die kleine Tasse wie aus den Porzellanräumen des alten Tänzers in Havanna; sie behielt sie auch nach dem Trinken am Mund, auf der anderen Seite fast schon der Mund, den sie noch küssen würde, mehr wollte sie gar nicht, mehr schien auch er nicht zu wollen, nicht im Moment, ein wortloses Einvernehmen, einvernehmlicher als jeder einvernehmliche Sex, von dem die Juristen gern reden. Erzähl von deiner Kinderfrau, sagte sie. Du siehst sie morgen zum ersten Mal wieder?
    Ja, seit vielen Jahren – Bühl nahm sein Gesicht in die Hände, als könnte er nur so erzählen –, bei unserer letzten Begegnung war ich noch Schüler, Tulla müsste jetzt über achtzig sein. Als wir uns kennenlernten, war ich fünf und sie schon über vierzig. Meine Eltern wollten für drei Tage nach Paris und hatten jemanden gesucht, der auf mich achtgibt, und die Hug Tulla hat sich gemeldet. Sie kam in unser Haus, kurz darauf stiegen meine Eltern ins Auto. Ich habe kaum geschlafen in der ersten Nacht, ich dachte, meine Eltern kämen nie mehr zurück, und Tulla hat mich auf ihren Schoß gelegt und gewiegt. Ich war fünf und noch nie gewiegt worden, es beruhigte mich. Sie war eine kleine kräftige Frau mit dunklen Haaren und dunklen Augen und einem feinen breiten Mund, und am Ende der drei Tage und Nächte dachte ich, sie wäre eigentlich meine Mutter, aber keiner dürfte das wissen. Ihr Vater war ein Bauer, der alte Hug, den Hof erbte sein Sohn, obwohl der am liebsten in Wirtschaften saß. Und die Tulla wollte als Mädchen aufs Gymnasium nach Freiburg, sie wollte Lehrerin werden, aber der Vater war dagegen. Also half sie auf dem Hof mit, und nachdem der Bruder den kleinen Hof vertrunken hatte, weil er in den Fasnachtstagen den halben Ort freihielt, wurde sie erst Verkäuferin in einer Bäckerei und dann im einzigen Süßigkeitenladen und nebenher Kinderfrau. Am Anfang hatte sie noch zwei andere Kinder, die Mädchen vom Bürgermeister, und später nur noch mich. Sie kam fast jeden Tag und nannte mich Das Kerle. Oder Ihr Kerle. Dann starb der Bruder, und Tulla musste noch seine Schulden bezahlen. Das Einzige, das er ihr hinterlassen hatte, war eine handgeschnitzte Teufelsmaske. Der Bruder hatte nur für die Fasnet gelebt, er war in der Zartenbacher Höllenzunft und besaß eine der schönsten alten Teufelsmasken. Tulla hat sie in Ehren gehalten, zur Fasnet hat sie die Maske immer geputzt, und ich durfte sie in ihrer Wohnung tragen und bekam Angst vor mir selbst, und Tulla hat nur gelacht, Das Teufelskerle, hat sie gerufen. Sie konnte klirrend lachen, und viele glaubten, sie sei verrückt. Tulla war in keinem Verein, hatte kein Ehrenamt und saß in der Kirche immer ganz hinten. Aber jeder kannte sie, jeder wusste ihre Wörter für die Pralinen, die man nicht probieren durfte. Sie konnte über Süßigkeiten so reden, dass man sie schmeckte, und alle Leute in Zartenbach spürten, dass sie das Zeug zu mehr gehabt hätte, Rektorin an der Grundschule oder Leiterin der Laienbühne. Wo immer sie auftauchte, war sie die geheime Seele, und meine Mutter ließ keine Gelegenheit aus, schlecht über sie zu reden. Tulla die Hexe, hat sie sogar einmal gesagt. Man wusste im Ort, dass sie die Teufelsmaske von ihrem Bruder besaß, und manche haben ihr dafür Geld geboten, eine Menge sogar, aber sie hat sie behalten. Und jetzt ist die Hug Tulla alt und will so sterben, wie sie gelebt hat, auf ihre Art und Weise.
    Und gab es keinen Mann in ihrem Leben? Vila hatte die Teetasse abgestellt, sie saß jetzt Kopf an Kopf neben Bühl, sein Haar hing in ihres und umgekehrt. Einen einzigen gab es, sagte er. Und nur ich wusste davon. Er war der Filmvorführer bei den Dreisam-Lichtspielen, auch ein Einzelgänger, Trudbert Pauli, und Tulla saß bei ihm im Vorführraum, und einmal soll ihretwegen eine Pause beim Wechseln der Rollen entstanden sein, bei dem Film Der Exorzist. Es war minutenlang dunkel im Kino, und man hörte ihr Lachen, und allen hat es gegraust. Aber schließlich wurden die Dreisam-Lichtspiele verkauft, ein Media-Markt zog dort ein, und Trudbert Pauli, der eine Art Intellektueller war, ging nach Karlsruhe, und

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