Liebe in groben Zügen
ihn aber auch anmailen und kurzfristig einen Termin am Bett vereinbaren. Normalen Besuch hatte sie kaum. Einmal kam der Onkel aus Kärnten, einmal eine frühere Kollegin bei Hermes Film, einmal ihr langjähriger zuckerkranker Nachbar. Die meisten, die ihr Leben in den letzten zwanzig Jahren begleitet hatten, waren Serienregisseure und -Redakteure, Serienschauspieler und Serienschreiber, Leute, die sich schon für lebendig hielten, wenn ihr Name im Abspann erschien; und das Kind, das jetzt bei ihr sitzen könnte, halb erwachsen und ganz lebendig, das gab es nicht, ein geplatzter Traum. Der Nichtvater hatte immerhin angerufen, zweimal schon, versucht, ihr Trost zu spenden, weniger seine Stärke; Kilian-Siedenburg war mehr der Typ Samenspender, der mit den Folgen nichts zu tun haben will. Komm besser nicht, hatte sie gesagt, und er hielt es sich offen, auch das seine Art, aber schließlich eine Mail, er komme am Wochenende, wollte ohnehin nach München, ob das okay sei, und sie gab ihr Okay, obwohl Renz schon auf seinem Sprung war.
Und dieser Sprung zog sich dann hin, einen Tag und noch einen Tag, warten zwischen halber Betäubung und halbem Schmerz, ihr schmaler Grat von Gegenwart, hier bin ich im Moment und hoffe, du kommst. Ein quälendes Warten also und als Gegenmittel doch ein Einsatz der Billy Wilder Collection, auch über den Touchscreen, nachdem eine der Schwestern, stilles gebildetes Personal aus der Region, Schwester Lara, der sogar der Name Shirley MacLaine etwas sagte, die DVDs eingelegt hat. Marlies wählt Das Appartement und schaut es bis zu der Stelle, an der C.C. Baxter und Miss Kubelik keine Bleibe für ihr beginnendes Glück haben, dann ein Wechsel zu Boulevard der Dämmerung, da reizt sie nur der letzte Teil, und abends, nach Apfelmus und grünem Tee, noch Manche mögen’s heiß, aber da hat sie bei der Schlafwagenszene schon genug, und nun schaut sie sich Das Appartement doch zu Ende an, davor hatte sie Angst. Es gibt kein besseres Happy End in letzter Sekunde, und wenn sie sich entscheiden müsste, welcher Billy Wilder nach dem Ende der Welt übrigbleiben sollte für eine andere Welt, als Botschaft der alten Erde, was die Liebe war, würde sie für Das Appartement stimmen. Nur wer weinen kann, kann lieben, und Vorabendtränchen gelten nicht. Sie nimmt ihr MacBook vom Nachttisch, nicht schwer und doch schon schwer in der Hand, sie geht auf ihre Facebook-Seite. Die Zahl der Freunde derzeit sechshunderteinunddreißig; fünf bekommen noch eine Mail, die finale, sie dankt für die Freundschaft und rät ihnen, alte Filme zu schauen. Dann geht sie auf den Link Konto löschen , auch wenn eher die Welt erlischt, das weiß sie, dafür reicht ihr Verstand trotz harter Drogen. Sie geht das ganze Prozedere durch, eine junge Nachtschwester hilft ihr, das Personal ist auf alles eingestellt, und beim letzten Klick die Vorstellung, all ihre Daten würden in ein Schwarzes Loch gesogen, das Schwarze Facebook-Loch oder der Ereignishorizont, ein Wort, das sie bei n-tv gelernt hat, da kommen nachts die interessantesten Dinge – ihr Ereignishorizont, nicht der der Physik, so weit kann sie auch noch denken. Die Nachtschwester ruft die Stationsärztin, ebenfalls aus der Region, aber sehr verhalten, Frau Dr. Weiss könnte auch in einer Akademie Zeichenunterricht erteilen. Sie mischt etwas in den Tropf, das beruhigen soll, nicht unbedingt in den Schlaf führt, aber in ein spannungsloses Dämmern. Ihr Gute Nacht hat etwas Verrücktes – hinter den Jalousien schon ein erstes Licht, der Tag. Bis Renz kommt, will sie den Verstand behalten, noch wissen, was mit ihr passiert, auch alles um sie herum verstehen. Was jetzt in ihre Vene tropft, das soll die Angst nehmen, so hat sie es bei Wikipedia gelesen, die Angst vor dem Verlassensein, vor dem Ersticken. Mehr oder weniger wird sie ersticken, aber erst kurz davor Angst haben. Bis dahin muss sie atmen oder nach Luft schnappen und mit dem Sauerstoff auch etwas anfangen, sich auch sagen, dass sie keine Angst hat, keine Panik. Dass sie nicht durchdreht. Nein, sie dreht nicht durch. Sie liegt ganz ruhig im Bett und überlegt, warum es keine Filme mehr wie Das Appartement gibt. Weil es jeder mit jedem überall tun kann, im Internet sogar, ohne sich anzufassen. Und weil man die Aufzüge in Bürohäusern selbst bedient, es keine Miss Kubelik mehr braucht. Weil alles so leicht ist, außer man hat Krebs. Seit ihre Krankheitsdinge auf dem Tisch sind, ist da nur ein Gefühl von Leere. Sie
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