Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
Vom Netzwerk:
alten iPod – all ihr neues Elektronikzeug landete früher oder später bei ihm, verbunden mit einer Nachhilfestunde, damit er nicht als Vollidiot dastand, und in dem Fall hatte sie als Lockmittel für schnelles Kapieren seine Lieblingssachen auf das kleine Ding geladen, kleiner als ein Päckchen Kondome oder Pariser, wie es zur Zeit dieser Songs hieß. Er suchte das Lied der Lieder, wenn man keine zu hohen Ansprüche an sein Gemüt hat, Il Mondo, und drehte den Ton auf bei den ersten, fast nachdenklichen Takten, als wüsste das Lied noch nicht, wohin sein Anschwellen führen soll, ehe der Refrain förmlich herausplatzt, wie aus ihm im selben Moment die Tränen, jedes Mal, auch wenn er dagegen kämpft, die Beine streckt, die Muskeln spannt, ankämpft wie der Schwimmer gegen die Strömung, bis er sich mitreißen lässt, das verdammte Il Mondo ihm in den Ohren klingt: eine Neueröffnung seines Lebens mit Jimmy Fontana im Pepitajackett, der zum Küssen ermuntert. Und wenn Vila ihn überlebt, und was sollte sie sonst tun, wird sie das an der Seite von Katrin ertragen müssen, Il Mondo aus zwei Boxen rechts und links vom Sarg. Renz lag jetzt in seinem Bett, die Musik wie eine Decke über sich gezogen, er war sechzehn, nicht Mitte sechzig, wobei er diese Mitte erst im April überschritten hatte, am siebzehnten, kein Datum der Extraklasse wie das von Vila, seine Gesellschaft hieß nicht Johann Wolfgang Goethe, sondern Anton Wildgans, Jurist und Lyriker, immerhin auch zweimal Leiter des Wiener Burgtheaters.
    Er hatte den Geburtstag ausfallen lassen, das jährliche Vilafest reichte für ihn mit, nur Marlies hatte sich nicht daran gehalten, sie rief vom Ossiacher See an und sang sogar Happy Birthday. Danach ein längeres Gespräch, Marlies mit aufgefrischtem Akzent durch die Kindheitsumgebung, auch eine Musik, die alles schwingen und klingen ließ, was sie sagte, jedes Wort und jede Silbe, wie gern sie ihn eigentlich habe und wie wichtig er für sie sei, nicht einfach ein älterer Mann: der ältere Mann, und ob sie ihm das sagen dürfe, wie gern sie ihn habe, ob er damit leben könne, dass sie damit irgendwie überlebe, und er hatte nur Ja geantwortet – fast schon ein krimineller Akt für einen Verheirateten, der nicht plante, sich zu trennen, aber ein Nein war undenkbar in dem Moment, und so war er an seinem Geburtstag mit nur einem Wörtchen auf die schiefe Bahn geraten, und allein Marlies’ Tod könnte ihn davon wieder herunterholen – eine Tragik, wie er sie schon nicht mehr für möglich gehalten hatte nach all den kleinen Vorabendmalheuren, von denen er lebte, die erste Verwicklung neunzehn Uhr zehn, die zweite vor der Werbepause, und die Lösung des Knotens in Minute dreiundvierzig, um in der letzten Minute noch einen Lacher zu bringen. Wie viele solcher Minuten hatte er mit einem Zwinkern gekrönt, einer Befreiung nach Mord und Totschlag oder verlorenem Prozess, immer war ihm diese Schlussminute gelungen, nur bei Marlies würde sie nicht gelingen. Er würde vor dem Zimmer sitzen, in dem sie stirbt, und im Spiegel blättern, der lag dort sicher herum wie beim Zahnarzt; ein stiller Flur, nur das Geräusch des Blätterns und manchmal die quietschenden Sohlen einer Schwester, Stunde für Stunde, weil Marlies’ letzte Stunde auf sich warten ließe, wie bei ihm der Schlaf. Er wollte nur noch schlafen, obwohl es erst früher Abend war, wegsinken in eine Dunkelheit und nicht die Dunkelheit abwarten. Im Besucherbereich auf ihrer Etage hänge ein Hessewort, hatte Marlies flüsternd erzählt, Wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt, das unentrinnbar und leise von allen ihn trennt. Also nicht nur ein teures Haus – sogar meine Schnabeltasse, sagte sie: wahrscheinlich Nymphenburger Porzellan, verziert wie das Bayerische Filmpreisfigürchen –, nein, auch ein kultiviertes.
    Renz lag nach Il Mondo hoffnungslos wach und sah sich in diesem Flur morgens um fünf im Spiegel blättern, Bestärkung suchen für sein Bild vom Zustand der Welt, auch wenn es letztlich nur eine eigene, kleine Welt war, hier in der Mitte von Mitteleuropa, Schadowstraße siebzehn, Frankfurt Sachsenhausen, an einem der Nebenarme der Schweizer Straße, wie Katrin immer sagte. Eine Welt der Banalität, nicht des Dunkels. Und wie kleinlich war das, wie schwach: sich in einer Gegend der Seligen am frühen Abend ins Bett legen und auf den Schlaf hoffen. Nicht einmal die Reifen seines Jaguars sind ihm in dieser Spielzeugumgebung je aufgeschlitzt

Weitere Kostenlose Bücher