Liebe in groben Zügen
worden, und was kann ihm überhaupt passieren, außer dass Marlies stirbt und mit Vila etwas nicht stimmt? Die größere Welt erwischt ihn höchstens, wenn er samstags an einem Stand der Grünen oder Linken vor dem dm-Markt am Schweizer Platz vorbei muss auf dem Weg zum Metzger Meyer, weil Elfi und Lutz abends zum Essen kommen, und er einen weißen oder roten Luftballon in den Himmel über Frankfurt entlassen soll, diese Kinderei mitmachen, um einer linken Solidarität oder grünen Friedfertigkeit Ausdruck zu geben, dann ist er schon wieder frei, während nur ein paar Flugstunden entfernt beide Beine zerfetzt sein könnten, weil die eine oder andere Gruppe ihren Ansichten Nachdruck verleihen will. Ihm kann eigentlich nichts passieren, bis auf die sanfte Vergiftung durch das Banale wie durch ein geruchloses Gas – er hat sich die letzte Staffel des Dschungelcamps angesehen, auch wegen Katrin, um sich am Unterschied zu ergötzen, aber ergötzt hat ihn ein Schauspieler, den er seit langem kennt, wie der Würmer verschlang und im Dreck lag mit seinem Gucci-Zeug, dazu noch der kleine fette Buffokommentator: das Ganze auch eine Art Bombe, eine wie im Alptraum, wenn man danach mit allen Gliedmaßen erwacht. Wünschte er sich vielleicht eine echte Bombe, gezündet am Schweizer Platz, wenn am Samstag die ganze Sippschaft dort einkauft für die Abendessen mit den Freunden? Ja und nein. Er wollte schon, dass alles Banale in die Luft geht, sich so auflöst wie er selbst, nur sollte es durch eine Bombe passieren, bei der sich hinterher alles neu und besser zusammenfügt, im Grunde auch ein Glauben ans Paradies gleich nach dem Heldentod, sein kleiner Privat-Islam. Und dann endlich die Wohnungstür, endlich Vila, Renz, bist du da?, sie geht ins Bad, geht in die Küche, sie schlägt ein paar Eier in die Pfanne, sie braucht seinen Zuspruch – die Kandidatin ohne Sex: nur akzeptabel mit Arzt in der Runde, prominent und gutaussehend, Wilfingers Hoffnung auf eine Spontanheilung –, Vila ist empört, sie hasst das Fernsehen, darin sind sie sich einig, auch wenn sie davon leben, das Ganze besiegelt mit einem Gavi di Gavi zu den Eiern, die er noch mit Kartoffeln und Zwiebeln verlängert hat; eine Einigkeit, die ein paar Tage vorhält, bis Vila eine Mail von Bühl bekommt: der eine Wanderung plant, und Renz einen Anruf von Marlies, ihre Stimme kaum mehr zu hören, der Anfang vom Ende, oder schon das Ende, das sich hinzieht? Ich bin auf dem Sprung, flüstert er, ich bin so gut wie bei dir, ja?
*
XVI
DAS Hessewort hing über einem Flatscreen mit DVD-Player und kleiner Filmsammlung für Kinder und Erwachsene; gegenüber eine Sitzlandschaft, Büffelleder, ausreichend Platz für eine ganze Familie, die auf den Tod eines Angehörigen wartet und nicht ständig an dessen Bett sein will. Aber es gab auch Sessel für Einzelbesucher um einen Glastisch mit Zeitschriften und, etwas abgetrennt, einen Bereich mit Espressomaschine, Getränken und Snacks und eine Office-Ecke mit PC und Fax. Ohne das Hessewort hätte man an die First Class Lounge einer Fluggesellschaft gedacht, mit den Zeilen an der Wand wusste man sich in einer First Class Clinic: Wenn hier gestorben wurde, dann in Weisheit, und die Angehörigen hatten daran teil, auch sie bekamen etwas von dem Dunkel ab, das unentrinnbar und leise von allen uns trennt. Die Besucherlounge also eine Art Transitbereich zwischen Leben und Tod, in ruhigen, aber nicht traurigen Farben, während die Patientenzimmer, trotz Licht und heller Ornamentik, schon diskrete Schleusen zu einem gänzlichen Dunkel waren.
Für Marlies war das Tageslicht in ihrem Zimmer einerseits echt, andererseits täuschend echt; ganz echt waren nur die feinen Grau- und Rottöne von Teppich und Wänden, aufgelockert durch etwas Blau bei den bayerischen Mustern auf dem Schrank und der Bettwäsche. Echt und doch falsch dagegen die Farbelemente auf den Apparaturen am Bett, sozusagen ein kolorierter Schrecken. Neuester Stand der Technik ja, aber der Rahmen häuslich, bis hin zu einem tatsächlichen Holzrahmen um einen Touchscreen in ihrer Reichweite. Sie konnte damit Musik auswählen, von Klassik bis Pop, die Jalousien herunterlassen, über eine Freisprechanlage telefonieren oder ihr Kopfteil für einen besseren Blick aus dem Fenster zum Park aufrichten; sie konnte sich ein Buch auf den Schirm holen, die Onlinedienste etlicher Zeitungen in Anspruch nehmen oder nachlesen, was der Hauspsychologe an Allgemeinem zu sagen hatte; sie konnte
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