Liebe in groben Zügen
einen Stoff dieser Art gedacht. Sie war dumm oder sediert, als sei schon immer etwas in ihre Vene geflossen. Sie war am Tropf der Dummheit. Erst Renz hat ihr die Nadel herausgezogen, und beide haben sie von einem Assisi-Zweiteiler geträumt. Wie jetzt von dem Missbrauchsstoff. Träumen ist immer noch besser als klein beigeben. Ihre wahre Schwäche, die hat sie bei allen Projekten versteckt, all diesen Stoffen mit starken Frauen. Krise ja, aber am Ende der Sieg. Nur sind liebende Frauen schwach, nicht stark. Und wenn die Zeit des Liebens endet, dann leiden sie und trauern nicht. Trauern, damit kam ihr der Hauspsychologe bei seinem Antrittsbesuch, einer mit Ringlein im Ohr und dem Würdegefasel eines Fernsehpfarrers. Er wollte herausfinden, wie sie sich fühlt, aber sie fühlte nur das Klaffen in ihr, und er sprach von nötiger Abschieds- und Trauerarbeit, Worte wie aus ihrer einzigen geplatzten Serie, abgesetzt schon nach drei Folgen, Praxis Doktor Selig: Da hat sie es einmal mit einem Juden als Protagonisten versucht und ist gleich auf die Nase gefallen, zu viel Schuldgefühlskram, zu viele Fettnäpfchen. Aber den Hauspsychologen, den hat sie Selig genannt: Herr Doktor Selig, ich komme hier ohne Sie aus. Und er nannte ihr seinen richtigen Namen, zweimal sogar, als sei sie schwerhörig, und trotzdem fällt er ihr im Moment nicht ein, ihr fällt überhaupt nichts mehr ein, eine Art Stillstand der Gedanken, der Bilder, der Worte, wie ein Hirnstillstand vor dem des Herzens. Nur den eigenen Namen, den kann sie noch vor sich hin sprechen, Marlies, sagt sie, atme weiter, und das tut sie auch stur, weiter atmen, und mit dem Sauerstoff, der sie erreicht, sich weiter auf Renz freuen, obwohl sie gar nicht die Kraft hat, sich das Haar zu waschen, nur die Zuversicht, dass er es übersieht. Sie ist ruhig und ohne Angst, was in die Vene tropft, hat schon gewirkt, eine Wirkung wie die, wenn sie als Kind vor dem Einschlafen noch gebetet hat, danke, dass du mich und meine Eltern beschützt, und mach, dass ich wieder aufwache – morgen früh, wenn Gott will, so hatte es ihre Mutter oft am Bett gesungen: Das hörte sie oder summte es noch in sich hinein, dann war der Ereignishorizont für diese Nacht, die schon in den Tag überging, erreicht.
Also doch noch der Schlaf, bis weit über den Mittag sogar, das Personal angewiesen, keinen Schlaf zu stören. Und in der Nachmittagsstille ein Sog, mit dem jedes ferne Geräusch etwas Nahes bekam, ein Hupen auf dem Zubringer nach Garmisch, die Klingeltöne aus anderen Zimmern, diffus wie alle Musik heute; nur einer oder eine, die hier auch liegt und wartet, hat den Refrain aus Every breath you take als Ton, die alte Police-Nummer, bei der ihr Rauchen anfing. Auf dem Touchscreen war es gleich drei, und sie machte den Fernseher an und ging auf den Sender mit stündlichen Nachrichten. Wer auf dem Laufenden ist, hat nichts von Psychiatrie, auch wenn er sich bei Besuch vielleicht zur Wand dreht, nicht zeigen möchte, nur reden – Stoff genug gab es, sollte der eigene ausgehen. Der Chef des Internationalen Währungsfonds in New York festgenommen, Verdacht auf Vergewaltigung eines Zimmermädchens, ein Franzose mit Hintergrund oder das alte Europa in Handschellen, die besten Filmbilder stammen aus dem Leben. Ihr Telefon klingelte, ohne Melodie. Es war Renz. Ich bin schon in München, sagte er.
EIN Anruf aus dem Vier Jahreszeiten, Renz mit leichtem Gepäck in der Halle, noch unschlüssig, was er tun soll, gleich in die Klinik fahren oder erst ein Zimmer beziehen und duschen oder sich ein anderes Hotel suchen, zwar ohne schöne Bar für den Abend – die Bar, an der er sich mit Bühl getroffen hatte, noch auf den Heiligenstoff fixiert –, dafür aber billiger und auch ruhiger. Arabische Kinder sausten mit Rollern umher, die Mütter telefonierend unter der Burka, die Väter beim Planen des nächsten Einkaufs, beraten von ihren Leibwächtern. Aus verborgenen Lautsprechern Nullmusik und in der Halle natürlich Rauchverbot, also ein Gang vors Portal, und dort die Zigarette neben zwei wartenden Bentleys; seit dem Bettabend mit Vila rauchte er wieder, nicht so wie früher, nur vier, fünf am Tag. Die Rollerkinder rollten zu den Bentleys, die Chauffeure verstauten das Spielzeug, die ganze Sippe fuhr ab, ein Leben, in dem alles geordnet war, auch das Vergnügen. Seine Ordnung dagegen weich, dehnbar, im Grunde nicht viel wert. Er ließ den Zigarettenrest fallen und drückte die Glut mit dem Absatz aus, hob dann
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