Liebe in groben Zügen
Renz stieg aus dem Wagen, die Tasche mit seinem Notebook in der Hand, er sah auf die Uhr. Sechs Flugstunden lagen noch zwischen ihm und Vila, reichlich Zeit für einen Zweiteilerentwurf – und warum nicht über den, der immer unterwegs war, den ewigen Wanderer Franziskus, in der Durchgangswelt eines Airports nachdenken?
DER Frankfurter Flughafen, wahres Herz der Stadt, nur etwas ausgelagert, eine Maschine, die seine Stadt am Leben erhält, wie die Maschinen, die früher oder später an Marlies’ Bett stehen werden: ein Gedanke oder Bild auf dem Weg zu den Terminals durch einen schier endlosen Tunnelgang, ganz allein um diese Zeit zwischen Nacht und Tag, wie ein Teil der Monotonie; nur alle hundert Meter ein Parkscheinautomat, keine Bänke, keine Nischen, wer nicht weitergeht, bleibt auf der Strecke. Erst an der Abzweigung zum Terminal A eine junge Reisende mit Rucksack auf dem Boden, mehr liegend als sitzend, den Kopf auf ihrem Gepäckstück, Schulter und Hüfte an der Wand unter einer Werbung für Investments in Dubai. Sie schlief, und Renz blieb stehen, wie Polizisten vor Herumliegenden stehen bleiben, um zu sehen, ob sie tot sind oder nur betrunken, und je jünger jemand ist, desto länger bleibt man stehen, und die dort lag, war noch sehr jung: wie den Songs von Kummer und Glück entsprungen, die er im Wagen gehört hatte. Zwanzig mochte sie sein, mit fransigen Jeans, Sweatshirt und Stirnband, das Band leicht verrutscht; ihre Sandalen lagen auf dem Boden, sie hatte zierliche Füße, nur etwas schmutzig, dafür umso sauberer ihre US-Adresse auf dem Rucksack, Los Gatos, Cal., Quito Road, die Hausnummer verdeckt von Haaren. Katrin war ihm früher, wenn sie zu ihren Fernzielen aufbrach, ganz ähnlich erschienen: als wollte sie ausreißen statt auf Reisen gehen – Runaway, an dieses Glückslied seiner frühen Schulzeit hatte er immer gedacht bei ihrem Anblick, my little runaway mit diesem Geigenlauf der höchsten Töne, wie ein Tirilieren der eigenen Freude. Sie lag ihm auf der Zunge, diese Stelle, und er setzte sich schräg gegenüber der Kleinen mit dem Rücken zur Wand auf den Boden, als könnte das die Jahre zurückholen, zog das Notebook aus der Tasche und klappte es auf. Franz von Assisi: Warum dieser historische Stoff, wo ist der Bezug zu heute, zu unserem Leben, so wollte er anfangen, aber nach der Überschrift war schon Schluss, er sah zu der Schlafenden mit Sternenbanner auf dem Sweatshirt, eine junge Patriotin. Cathy könnte sie heißen, weil sie ihn an Katrin erinnerte, so simpel sind die Dinge in einem, und wenn Cathy aufwacht, sich erst die Augen reibt und ihn dann schreiben sieht, kommt ein verschlafenes Jesus über den Gang, Jesus, what are your writing in a place like this? Und er würde ihr sagen, dass es um einen heiligen Helden geht, Franz von Assisi, darauf sie nur: Franz who?, und schon wären sie im Gespräch, er könnte ihr von Franz erzählen, auch wenn er kaum etwas über ihn weiß, dafür umso mehr über Assisi, wo es liegt und wie es dort aussieht, was sich dort abspielt. So, you are from Italy, an Italian, ihr schlichter Rückschluss, und seine Antwort: Leider nein, ein Deutscher. Aber das Leider, sein Sorry reizt die Patriotin in ihr, A German, why not? And why don’t you write about a German hero? Eine gute Frage, amerikanisch pragmatisch, und er müsste ihr sagen, dass es in Deutschland heute an Helden und großen Stoffen fehlt, man könne nicht ewig über die Nazis und die paar Widerstandskämpfer schreiben, auch nicht ewig über den Mauerfall. Und was danach kam, reicht nur noch als Stoff für Komödien oder die immer gleichen Filme über good guys and bad guys, die im richtigen Leben nur Möchtegerns sind. Er könnte ihr das alles nicht mehr erklären, ihm würde schon das englische Wort für Möchtegerns fehlen, und ohne das kommt man nicht aus. Möchtegernstars, wohin man auch sieht, singende Underdogs, die sich immer noch kleiner machen lassen, Heulsusen auf dem Catwalk, dazu die Würmerfresser und Bettgeschichtenerzähler im ausgeleuchteten Dschungel, und in Talkshows Politiker, die gegen ihr fieses Gesicht anreden, wieder und wieder, weil sich ja nichts daran ändert. Alles wird nur schlimmer, je älter sie werden, also müssen sie reden und reden, parodiert von Komikern, die vor allem komisch ausschauen, Möchtegerns auf allen Kanälen, einzige Ausnahme: die Sportler, die etwas taugen. Wer dauernd Tore schießt oder als Erster ins Ziel kommt, ist kein Schnäppchenjäger,
Weitere Kostenlose Bücher