Liebe in groben Zügen
erwarten, ist totales Verständnis, als wären sie psychoanalytische Aggregate und keine Menschen, nicht Mann und Frau. Nur ist das totale Verstandenwerdenwollen auch der totale Krieg, versteh mich oder verschwinde aus meinem Leben, stirb. Frauen wie Vila geht es immer um das Ganze oder Stimmige, aber man weiß erst beim letzten Wort, ob das erste Wort und damit das Ganze stimmt. Auf jeden Fall ist es bei seinen Vorabenddramen so, wie banal die Geschichten auch sind, wenn die Leute höchstens trauern oder jammern und nicht leiden, ein alter Vilavorwurf: In deinen Drehbüchern quatschen alle viel zu viel, bezahlt man dich nach Worten? In gewisser Weise ja, er könnte kein Buch von zwanzig Seiten abliefern, neunzig müssen es schon sein bei achtundvierzig Minuten, und dann noch die großen Themen, Liebe, Tod, Verrat, Reich und Arm, Schönheit und Neid, Glück und Pech, und alles in aktueller Kulisse, Berlin, die tolle Hauptstadt, Frankfurt, Metropole von Geld und Rotlicht, das Große, das ins Kleine spielt, so wollen es die Redakteure, die fast alle schon Redakteurinnen sind, Frauen, die ihm nichts durchgehen lassen als Mann, nur als Schreiber. In den Dialogen soll er dauernd mehr sagen, als er weiß, die heutige Geisteskrankheit Nummer eins: dass alle dauernd mehr sagen, als sie wissen, weil sie glauben, das Internet würde die Lücke füllen, aber es zeigt den Abgrund nur auf, so wird man zum Antipoden vom alten Brandt auf dem Flug nach Graz: Da saß vor ihm einer, der wusste tausendmal mehr, als er sagte. Und kein einziges seiner Haare war gefärbt, wenigstens darin glichen sie sich. Ihm, Renz, hat noch keine junge Frau übers aschige Haar gestrichen, gesagt, sei kein Frosch, lass es wieder dunkel machen, schließ mal die Augen. Immerhin etwas, vor dem Vila den Hut zieht: dass er nicht an seinem Haar herummacht, nur gegen den Bauch ankämpft. Sie selbst muss natürlich eine Art Krieg gegen ihr Haar führen, oder hat man schon ergraute Moderatorinnen gesehen. Und trotzdem wird sie ihren Job bald verlieren, er spürt das. Nicht dass sie schon zu alt wäre, das ist sie noch früh genug, aber sie ist zu anständig. Ihr fehlt der leicht schlechte Geschmack, die gewisse ferklige Kuschelei, wenn man sich vor der Kamera halten will. Vila ist für Klarheit, ihr liegt das Lockere nicht, sie hat keinen Style, sie hat Stil, ja sogar Takt, wenn sie Menschen vorstellt, die etwas sonderbar sind, wie den Ex-Lehrer Bühl, der inzwischen ihr Haus hütet und über Franz von Assisi schreibt, seinen Experten, ohne dass er sich selbst so sehen würde, und auch Vila hat ihn nicht so anmoderiert, sie sprach von ihm als dem Zeitenwanderer, ein Ausdruck, auf den ihre Nachfolgerin, er tippt auf die junge Kollegin Yilmaz, niemals käme – Hayat Yilmaz, die im Übrigen mehr deutsch als türkisch ist, auch kaum Türkisch spricht, aber gern auf Türkisch macht, aus Spaß sogar hin und wieder mit Kopftuch erscheint, eine Schicksalsschwindlerin wie so viele, die ins Rampenlicht drängen, all die Leute mit den Gesichtern, denen es an Geschichte mangelt, weil es nur die Geschichten ihrer Auftritte gibt. Irgendeine Durchsage drang bis in den Tunnelgang, er verstand nur das Wort Gepäckstücke, angeblich hört er nicht mehr alles, geh mal zum Akustiker, sagt Vila sogar, wenn sie mit Freunden am Tisch sitzen. Sie meint es gut und sagt nicht Ohrenarzt, aber Akustiker klingt viel schlimmer, und dabei hört er noch genug, auch Vilas Geflüster mit Elfi, Renz muss da was tun, mach doch mal einen Test und schau auch gleich nach seinem Cholesterin, er hat das alles verstanden, obwohl Musik lief, die letzte CD von Johnny Cash, diese unglaubliche Nummer mit dem schwarzen Pferd, niemand konnte das Wort Horse so männlich singen, und trotzdem hat er noch die letzten Silben von Cholesterin mitbekommen. Also kein Grund für ein Hörgerät, auch wenn die jetzt winzig sein sollen, aber irgendwie sieht man sie doch, und schon kommt man auf den Gedanken, dass so einer mit Stütze hinterm Ohr, diskreter als früher das Kaugummi, auch woanders seine Probleme haben wird, die Durchblutung macht keinen Unterschied zwischen den Gefäßen im Kopf und im Unterleib, jedes noch so kleine Gerät hätte für ihn etwas von einer Viagrakapsel am Ohr, tut mir leid, aber meine Organe brauchen einen Kick, sonst gehen auch noch die Worte unter, die mich hochbringen – mach mit mir, was du willst, hatte Marlies nachts in Lucca gesagt, da kann keine Chemie und keine Elektronik
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