Liebe in groben Zügen
machen es zusammen! Sie küsste ihn auf die Stirn, die Backen, den Mund, ein Überborden, das ihn sekundenlang ansteckte, ihr ins Haar greifen ließ, unter den Rock, an die Beine, bis er ruckartig ausstieg. Er holte ihre Tasche aus dem Kofferraum, und sie versprach, nach dem Termin ins Bett zu gehen, noch etwas, das ihn beruhigen sollte. Denk an unsere Dinge, rief sie als Letztes und winkte, als er schon wieder im Wagen saß, und er winkte zurück. Auch als er sie gar nicht mehr sah, immer noch eine hin und her wischende Hand, die schließlich aufs Lenkrad fiel; blieb nur noch das Fahren durch die Stadt und über den Zubringer auf die Autobahn. Er machte das Radio an, Bayern drei mit den Nachrichten, und machte es wieder aus – alles klingt dumm, wenn man gerade den Tod hat anklopfen hören: ein Satz, den er noch vorigen Monat notiert hätte für sein Vorabendzeug, jetzt fuhr er damit weiter, trotz Stop and go.
Renz hasste die Strecke München–Frankfurt, erst das Schleichen bis zur Flughafenabzweigung, dann Hopfenfelder, später das Altmühltal, im Herbst die Nebel, und zwischen Nürnberg und Würzburg Gegenden, die ihn umbringen würden, müsste er seine restliche Zeit dort zubringen, gefangen in Orten wie Geiselwind oder Schlüsselfeld, Schlüsselfeld mit einer Wundertütenfabrik, die sah er jedes Mal vom Auto aus, da kamen also die Wunder her, aus dieser kleinen, selbst tütenhaften Fabrik mit dem ältlichen Schriftzug Wundertüten: Lieber wäre er tot, als in Schlüsselfeld weiterzuleben. Zwanzig Jahre gab er sich noch, jedes Jahr viermal München–Frankfurt oder umgekehrt, achtzigmal die verhasste Strecke. Und vor Würzburg dann nichts als Rücklichter, er bog in die Raststätte Haidt, oft ihr letzter Halt vor Frankfurt. Meistens fuhr Vila, sie ertrug es kaum, wenn er überholte, an BMWs und Porsche Cayennes vorbeizog, wie sie den ganzen Wagen mit ihm darin kaum ertrug, vielleicht aber auch nur ihn, während Marlies mit dem Wagen und ihm zurechtkam, sogar noch das Beste aus beidem herausholte. Einmal hatte er im Dunkeln angehalten, ein einsamer Platz im Apennin, er war zu einem Strauch gegangen, und als er zurückkam, saß sie hinten, Kaspers alte Decke über den Beinen, und sie machten es in dem Fond mit extra Fußraum, das einzige Wort dafür. Sie machten es, ohne auch nur zu flüstern, da war nur ihr Atmen und manchmal ein Lachen so unvermeidlich wie Schluckauf.
Er ging in die Raststätte, er hatte Hunger, sein Abendessen war ausgefallen, es war schon spät nach Staus bei Nürnberg, fast Vilas Sendezeit. Renz nahm sich Rostbratwürstchen mit Kraut vom Buffet, dazu Salat und Cola, er suchte sich einen Tisch, weit weg von anderen, und stellte sein Telefon an, es gab zwei Nachrichten. Melde dich, Marlies. Und von Vila ihre Flugnummer und Landezeit, neun Uhr vierzig. Er aß die Würstchen, das Kraut, den Salat, dann rief er in München an, melde dich, das klang wie in Not, am liebsten hätte er sich nicht gemeldet. Marlies nahm gleich ab, also hatte sie gewartet, sie fing auch gleich an zu reden, er konnte hören, dass sie rauchte, sie sprach zwischen den Zügen, die Sache mit ihrer Lunge, sagte sie: Nicht so gut. Nächste Woche sollte die neue Chemo anfangen, aggressiver als vorher, da würden alle Haare ausfallen – schlimm? Sie lachte oder weinte, er konnte es nicht unterscheiden, nur wollte er auch nicht fragen; er wollte sie aufmuntern und erzählte von Recherchen für eine frühere Arztserie, von Heilungen, die keiner mehr erwartet hatte. Alles immer auch psychisch, sagte er, und von ihr jetzt nur kleine Laute, wie ein Schnappen nach ihm, und er kam auf das Zweiteilerprojekt und versprach ihr eine Ideenskizze, gleich morgen würde er die schreiben, damit könnte sie schon hausieren gehen, etwa bei teamartfilm, Berlin. Das lenkt dich ab, sagte er, und sie sprach von ihrem Körper, was damit geschehe in nächster Zeit, ein Referieren, als ginge es um die geplante Nachbearbeitung eines Films, das Ganze mit ferner Stimme, sie irgendwo auf dem Meer, nur schwach über Funk mit ihm verbunden, wie aufgesogen von ewiger Nacht. Marlies, rief er, so laut, dass Leute sich umdrehten, Wir beide, wir machen das! Ein Anposaunen gegen das Nächtliche, Ferne, ihre Verflüchtigung, und tatsächlich kehrte etwas zurück von der Producerin Mattrainer. Sie entwarf die Titelfigur, Franz, den Sänger und Prediger, klein, aber charismatisch, sie baute ihn förmlich auf, bis sie zu husten anfing, hustend mit den Zweifeln kam,
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