Liebe in groben Zügen
dass kein Sender bei so etwas mitmachen würde und die Figur damit wieder einriss, demontierte – wer will so einen in Lumpen schon sehen? Heiser lachend kam das, Husten und Lachen wie eins, und fast hätte Renz mitdemontiert, alles für sinnlos erklärt, einzig sicheres Vergnügen in dem Gewerbe, nur war Marlies am Ende, sie wollte auflegen, nichts als schlafen. Wir reden morgen, ruf mich an, sagte sie noch, und er versprach es und lief zu seinem großen, tröstlichen Wagen.
Renz fädelte sich in die Rücklichterkette, die ewige Baustelle bei Würzburg, wenn das letzte Stück fertig wäre, hätte das erste schon wieder Schäden oder wäre überholt, wie die Gebäude aus den Achtzigern, die sie jetzt in Frankfurt einrissen, das hatte etwas, darauf freute er sich geradezu, da konnte das Begraben von Filmprojekten kaum mithalten. In seinen Schreibpausen stand er oft eine Stunde lang am Straßenrand und bestaunte den beingroßen Stahlnagel, wie der von Pressluft getrieben immer wieder in den Beton fuhr, bis wieder ein Stockwerk wegbrach, krachend in den Schutt fiel – der Degussa-Komplex am Mainufer war jetzt an der Reihe, da hatte er es nicht weit, und am besten war es, wenn sie die Scheiben einschlugen, hinter riesigen Vorhängen alles zersplitterte. Er stellte die Musikanlage an, eine der CDs von seinem Sechzigsten, wo jeder sich einen Song wünschen durfte, Katrin hatte sie alle heruntergeladen und für ihn gebrannt, er hörte Fever mit Peggy Lee, das hatte sich die Engler gewünscht, demnächst mit ihrem Mann in der Schadowstraße zum Essen – Fever: erstaunlich für eine Pastorin, auch wenn sie keine mehr war, sie war jetzt Mediatorin und verdiente besser als vorher, eine schöne kluge Frau wie Vila, dazu noch leicht unter fünfzig. Nach Peggy Lee kamen die Everly Brothers mit Cathy’s Clown, Edgars Wunsch, Edgar, sein Jahrgang, ein Achtundvierziger, nur beweglicher als er, tangoversiert und beim Halbmarathon dabei, ein Vollblutsportjournalist, in zwei Jahren berentet. Und dann kam Vilas Lied, Vivrò per lei, das sie oft auf Autofahrten gehört hatten, nachts zwischen Venedig und Torri. Er sollte sie am Flughafen abholen, oder warum hatte sie sonst diese Nachricht geschickt, und vorher wollte er gar nicht in die Wohnung, er könnte irgendwo sitzen, bei Starbucks, und die Ideenskizze schreiben, wie andere in den Morgenstunden irgendwo in der Bild-Zeitung blättern, auch nicht daran denken, ob das Sinn macht, ob es ihr Leben verbessert.
Er drehte die Musik laut, nichts wühlte sein Denken mehr auf als die alten Lieder – dass er mit fast vierundsechzig und einer Geliebten, der bald die Haare ausfielen, auf der falschen Seite stand, ja vielleicht selbst diese falsche Seite war: ein Blitzgedanke bei Honky Tonk Woman, seinem Wunschlied. Andererseits hatte ihm Marlies in den letzten Tagen mehr zugehört als Vila in einem ganzen Jahr; er lag in ihren Armen und durfte reden, sie lag in seinen Armen und hörte zu. Also war er unter die Liebenden gefallen, ohne echten Sturz, der käme früh genug. Bis Frankfurt hörte er die Geburtstags-CDs, zwischendurch in einem Unfallstau und später sogar noch im Parkhaus am Flughafen, morgens um halb vier Capri c’est fini, das hatte er sich auch ausgesucht, mit dem Trommelauftakt am Beginn wie bei einem Soldatenlied, und dann sang er es mit, ganz allein in dem weiten Parkhausdeck, ein Singen bei offener Wagentür. Und nach dieser Nummer war nur noch eine übrig, ebenfalls seine Wahl, er, der Jubilar, hatte als Einziger drei freie Wünsche gehabt, zwei davon nicht verteilt, seine Lieblingslieder. Er hatte Katrin gebeten, sie zu bündeln am Ende des Wunschkonzerts während einer Schifffahrt über den See: wie die Doppelfanfare für einen letzten Lebensabschnitt. Renz zog den Zündschlüssel heraus und hörte das eigene Körperschaffen in der Stille, sein Herz, das bei der Finalnummer, Il Mondo, womöglich zu Schaden gekommen wäre; auf dem See hatte er in der Bucht von Salò für Vila noch den Refrain mitgesungen, nur für sie, die er von hinten im Arm hielt, ihre Hände an seinen. Sie beide auf dem kleinen Oberdeck des gemieteten Schiffs, der Mantua, während alle anderen an dem milden Aprilabend auf dem Hauptdeck standen und gar nicht merkten, wie ernst es ihm und ihr war, so ernst wie erst Jahre danach wieder, auf die Mail hin, dass sie Großeltern würden, als sie noch einmal eine Zukunft hatten. Und nun sind sie wieder, was sie waren, das alte Paar mit erwachsener Tochter.
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