Liebe in St. Petersburg
schicke ihm eine Depesche. Rußland darf doch nicht zugrunde gehen!«
Die Wyrobowa nickte und ließ durch die Telefonzentrale von Peterhof die Leitung nach Sibirien freimachen, die für die Zarin zur Verfügung stand.
Beten Sie, Väterchen, für uns und Rußland! telegrafierte die Zarin an Rasputin. Verhindern Sie mit Ihrem Gebet den Krieg. Segnen Sie uns und unser Land. Und wenn Sie es können – kommen Sie zurück nach Petersburg, um das Schlimmste zu verhindern. Papa braucht Sie … und ich auch! Ganz Rußland braucht Sie jetzt … Kommen Sie … { * }
Aber Rasputin gelang es nicht, jetzt schon seine Schwäche zu überwinden. Zwar brüllte er und versuchte, mit eigner Kraft sich am Bettpfosten hochzuziehen, aber der von Fieber und dem dauernden Eiterfluß ausgehöhlte Körper versagte.
Sie kamen alle zu spät: die Mahner, die Vernünftigen, die kühlen politischen Rechner, die Weiterblickenden …
Am 31. Juli, frühmorgens, zogen Soldatenkolonnen und Polizisten durch Petersburg, und zur gleichen Stunde wurde in allen russischen Städten und Dörfern, an den Straßenecken die Mobilmachungsorder für die Armee und die Marine angeschlagen.
Wie vorhergesehen, erfüllte ein unbeschreiblicher Jubel das ganze Land. Die Menschen tanzten auf den Straßen, Fremde fielen sich um den Hals und küßten sich, und wo das Volk Soldaten sah, warf es Blumen, und die Mädchen hingen an den Soldaten und benahmen sich wie betrunkene Dirnen.
Über die Morskaja marschierte eine Kompanie russischer Infanterie an der Deutschen Botschaft vorbei. Als die Männer Hauptmann von Eimmen an einem der Fenster sahen, hoben sie ihre Gewehre und brüllten: »Nieder mit Deutschland! Auf nach Berlin!«
Auch Gregor hörte die Rufe. Er saß im Gartenzimmer des Michejewschen Palais in einem weichen Sessel. Grazina stand hinter ihm und hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Graf Michejew hatte bereits in der vergangenen Nacht angerufen und zu Gregor am Telefon gesagt:
»Mein Junge, was ich jetzt tue, ist Verrat; aber du sollst es als erster wissen: wir mobilisieren! Es ist soweit. Entscheide dich nun!«
»Noch ist kein Krieg«, hatte Gregor geantwortet. »Er spukt nur in euren Soldatengehirnen! Denk an Rasputins Telegramm!«
»Rasputin! Dieser Hurenbock!« Man hörte es deutlich durchs Telefon: Michejew hatte auf den Tisch geschlagen. »Der Zar ist bereits gewonnen, die Mobilmachung ist unterschrieben! Gregorij Maximowitsch, habe ich einen Schwiegersohn oder einen Feind in der Familie?«
»Ich liebe Grazina.«
»Das ist, entschuldige, in einer solchen Situation die dämlichste Antwort! Du hast mir schon einmal so geantwortet. Also gut, warte ab, was deine Regierung macht!« Er legte den Hörer auf.
»Warum fahren wir nicht?« fragte Grazina plötzlich.
Gregor drehte den Kopf zur Seite. Grazinas Augen waren nahe über ihm. Sie spitzte die Lippen und gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze.
»Fahren? Wohin?« fragte er.
»Weg. Einfach nach Osten! Nur weit weg von der deutschen Grenze. Rußland ist so groß. Zwei Menschen können in dieser Weite untertauchen …«
»Das wäre Flucht, Grazina.« Er griff in ihre blonden Haare und zerwühlte sie. Er tat das gern. Es war ein eigenartiges Gefühl, mit dieser Seide zu spielen, sie durch die Finger gleiten zu lassen, sie auf der Handfläche aufzuzwirbeln und dabei den zarten Duft zu riechen, den sie ausströmten und den er an ihrem ganzen Körper wiederfand.
Sie küßte ihn abermals, diesmal auf die Augen, und legte die Arme um seine Brust. Er spürte den festen Druck ihrer Brüste in seinem Rücken, und die Sehnsucht, sie ganz besitzen zu können, wuchs übermächtig in ihm. Bisher war alles nur ein Streicheln geblieben, ein Abtasten, eine Gemeinsamkeit der Hände, ›sehende Finger‹, wie sie es nannten, eine wunderbare Innigkeit in der Zärtlichkeit der Distanz.
»Nenn es, wie du willst«, sagte sie. »Kannst du meinen Vater niederschießen, nur weil er ein Russe ist?«
»Dein Vater wird Deutsche erschießen …«
»Darum müssen wir weg – weg von allem!«
»Die Straße zum Mond ist noch nicht entdeckt …«
»Sibirien ist ferner als der Mond, Gregorij. Wir werden uns so lange verstecken, bis die Menschen vernünftig geworden sind.«
»Das heißt: für immer!«
»Wir haben uns, Grischa. Genügt das nicht?«
Er nickte und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.
Was soll ich tun? dachte er. Ich bin deutscher Offizier. Ich bin zum Gehorsam erzogen worden. Aber was ist das alles wert
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