Liebe in St. Petersburg
Über einen Weg spazierte stolz ein Pfau. Sein buntes Gefieder schimmerte metallen in der Sommersonne.
»Sie desertieren also?«
»O mein Gott, nennen Sie es doch anders! Ich will keinen Krieg!«
»Was will ein Tropfen in einem Meer? Auch wenn er keine Welle werden will, er wird mitgerissen!«
»Das ist es ja gerade, dem ich entfliehen will. Ich will über mein Leben selbst bestimmen können, ich will mich keinem Wahnsinn beugen – und dieser Krieg ist ein Wahnsinn!«
»Sagen Sie das den Russen, Sie Phantast! Comtesse«, von Semrock wandte sich wieder an Grazina, »es gibt noch eine Möglichkeit. Schließen Sie sich Gregor an, kommen Sie mit in die Deutsche Botschaft und reisen Sie mit uns aus.«
»Und Gregorij?«
»Er wird seine Pflicht als deutscher Offizier erfüllen.«
»Das heißt, er tötet Russen!«
»Er tötet die, die uns angreifen!«
»Nie! Nie! Nie!« Grazina umklammerte die kleine Pistole. »Kein Wort mehr, Herr Oberst. Mutter, sag ihm doch, daß er endlich gehen soll!«
Anna Petrowna strich sich über die glatten schwarzen Haare. Dann lächelte sie Oberst von Semrock an, als habe sie die ganze Zeit über nur Komplimente zu hören bekommen. »Ich glaube, Ihre Mission ist erfüllt«, sagte sie geradezu charmant.
»Mir fehlt noch die eindeutige Stellungnahme des Herrn Oberleutnant«, antwortete Semrock steif.
»Noch ist kein Krieg«, sagte Gregor am Fenster, ohne sich umzudrehen.
»Ich habe den Befehl, Sie mitzubringen.«
»Er ist nicht transportfähig«, erwiderte Anna Petrowna gelassen.
»Vielleicht ist er es in ein oder zwei Tagen.« Der Oberst verbeugte sich knapp. »Meine Damen, ich danke Ihnen; Herr von Puttlach, wir warten auf Sie.«
Er knallte wieder die Hacken zusammen und verließ das Zimmer. Als die Tür zuklappte, drehte sich Gregor um. Sein Gesicht zuckte. Grazina ließ die kleine Pistole fallen, lief zu Gregor und umarmte ihn.
»Du gehörst zu mir!« rief sie. »Zu mir und keinem anderen! Nicht zu Deutschland, nicht zu Rußland, nur zu mir …«
»Ich lasse packen!« sagte Anna Petrowna leise und fest. »Der General hat sowieso keine Zeit, sich um uns zu kümmern – er muß Ostpreußen erobern! Wenn die ersten Schüsse an der Grenze fallen, müssen wir Petersburg weit hinter uns haben.« Sie ging auf Gregor zu und starrte ihm ins Gesicht. »Gregorij, ich glaube, Sie weinen ohne Tränen …«
»So ist es, Anna Petrowna …«, antworte Gregor tonlos. »Es ist verdammt schwer, sich daran zu gewöhnen: heimatlos, rechtlos, vogelfrei …«
»Es ist nur ein Übergang, Gregorij Maximowitsch. Nach diesem Krieg wird Ihnen Rußland eine neue Heimat mit einem schöneren Gesicht sein. Von mir aus weinen Sie – aber tun Sie es jetzt! Später haben Sie keine Zeit mehr dazu …«
IX
Am 1. August 1914, nachmittags kurz nach 5 Uhr, verkündete vor dem Berliner Schloß ein Schutzmann, daß Seine Majestät der deutsche Kaiser die Mobilmachung befohlen habe.
Die vielen Menschen, die seit Stunden vor dem Schloß standen, nahmen ergriffen ihre Kopfbedeckungen ab. Und plötzlich war da eine Stimme, und eine zweite fiel ein und dann sangen es Hunderte voller Inbrunst: »Nun danket alle Gott …«
Und niemand, der diesen Choral mitsang, begriff den ungeheuren Wahnsinn, der in den Gehirnen nistete, diesen absoluten Irrsinn, Gott dafür zu danken, daß in wenigen Stunden das große Sterben begann, Leiber zerfetzt wurden, die Jugend ausgerottet wurde und unfaßbares Leid über Frauen und Mütter hereinbrach.
Am Abend zogen Tausende mit Fahnen und Gesang zum Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße, und Reichskanzler von Bethmann-Hollweg rief mit weithin schallender Stimme vom Balkon: »Im Ernst dieser Stunde erinnere ich Sie an das Wort, das einst ein Prinz den Brandenburgern zurief: ›Laßt eure Herzen schlagen zu Gott und eure Fäuste auf den Feind!‹«
Am gleichen Abend kam der Zar mit halbstündiger Verspätung in den Speisesaal von Peterhof, wo ihn seine Familie erwartete. Er war bleich, schwankte beim Gehen und hielt ein Telegramm in der Hand. Alexandra Feodorowna sprang auf und lief auf ihn zu.
»Deutschland hat uns soeben den Krieg erklärt«, sagte Nikolaus II., dann versagte seine Stimme. Er sank auf einen Stuhl. Die Zarin stützte sich weinend auf ihre Tochter Tatjana. Krieg! Was hatte Rasputin vorausgesagt? Das Ende Rußlands – das Ende der Monarchie …
Noch in der Nacht schickte Alexandra Feodorowna eine Depesche nach Pokrowskoje: Väterchen Grischa, komm sofort nach
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