Liebe in St. Petersburg
bei dieser Entscheidung zwischen Pflicht und Liebe? Mein Gott, was soll ich nur tun?
Die Entscheidung fiel am Abend.
Anna Petrowna war von der Zarin zurückgekommen, blaß, mit einem starren Gesicht, das den zarten Marmorarbeiten römischer Bildhauer glich. Sie brachte die Abschrift eines neuen Telegramms mit, das Rasputin der Zarin geschickt hatte. Es war eine Vision, die den Zaren wohl ergriff, die aber nichts mehr ändern konnte:
Wir haben zuviel Tote, zuviel Verwundete, zuviel Trümmer, zuviel Tränen! Denke an die Unglücklichen, die nicht mehr wiederkommen werden! Denke daran, daß jeder von ihnen fünf, sechs, ja zehn Menschen hinterläßt, die ihn beweinen! Ich sehe Dörfer, in denen jeder einen Toten betrauern wird. Und die Männer, die aus dem Krieg zurückkehren – mein Gott und Herr –, wie sehen die aus? Krüppel, Einarmige, Blinde … Siehst Du, wenn das Volk allzusehr leidet, dann wird es schlecht, dann kann es fürchterlich werden …
»Das stimmt!« rief Anna Petrowna und warf die Abschrift in eine silberne Schale. »Die Republik wird kommen! Ob mit oder ohne Krieg – das Volk wacht auf!«
Sie sagte es mit einem solchen Triumph in der Stimme, daß Gregor sie betroffen anstarrte. Gleich darauf meldete ein Lakai, daß ein Oberst von Semrock vorgelassen werden möchte.
»Nein!« sagte Grazina laut. »Keinen Besuch mehr von der Deutschen Botschaft!«
»Das kannst du nicht machen!« Gregor stemmte sich aus dem Sessel hoch. Die Brust war noch bandagiert, drei Rippen hatten sie ihm eingetreten und es war ein Wunder, daß die Knochenspitzen nicht die Lungen zerrissen hatten. Die offenen Wunden verheilten gut, aber die vielen Prellungen färbten sich jetzt gelbgrün. »Der Oberst ist mein Vorgesetzter!«
»Du hast keinen Vorgesetzten mehr!« Grazina lief zur Tür und stellte sich davor. Es sollte heißen: Nur über mich hinweg … Und doch wußte sie, wie wenig wert das jetzt war. »Du bist im Haus der Michejews!«
»Ich lasse bitten«, sagte Anna Petrowna kühl. Der Lakai machte eine Verbeugung und verließ das Zimmer. Grazina starrte ihre Mutter entgeistert an.
»Was … was tust du, Mutter?« fragte sie leise. »Du lieferst Grischa aus! Du läßt zu, daß man ihn wegholt? Mutter!« Sie rannte zu einem Schreibtisch, der nahe am Fenster stand, riß die Schublade auf und holte eine kleine Pistole hervor. Ein Spielzeug fast, mit einem Griff aus schimmerndem Perlmutt, aber auf kürzeste Entfernungen zielgenau. »Ich schieße auf jeden, der sich Gregorij nähert!« sagte sie verzweifelt. »Auf jeden!«
»Grazina!« rief Gregor und ging schwankend ein paar Schritte auf sie zu. Anna Petrowna schüttelte den Kopf und hielt ihn fest. Es sah aus wie eine Umarmung …
»Das ist ihr georgisches Blut«, sagte sie. »Sehen Sie nur, Grischa, wie wenig sie von dem General hat. Seine blonden Haare – er war früher auch einmal blond – mehr nicht! Das macht mich glücklich!«
Es klopfte. Grazina fuhr herum und richtete die Pistole auf die Tür. »Laß ihn nicht hereinkommen, Mutter. Ich schieße wirklich! Ich gebe Grischa nicht her!«
»Du kannst ihn nicht mit Gewalt festhalten, Grazina. Diese Entscheidung muß Gregorij ganz allein fällen! Und das soll er jetzt tun! Sei klug und höre dir an, wozu Männer fähig sind, wenn sie mit den Waffen rasseln dürfen.« Anna Petrowna führte Gregor zu seinem Sessel zurück, aber er setzte sich nicht. »Bitte, treten Sie ein!« rief sie dann in Richtung der Tür.
Oberst von Semrock kam herein, in Uniform, mit allen Orden, den Helm unter die linke Achsel geklemmt. Vor dem Michejewpalast wartete eine Kutsche der Botschaft, umringt von finster blickenden Menschen. Ab und zu erklang ein Ruf, dem aber glücklicherweise niemand Folge leistete: »Holt die Deutschen vom Bock! Jagt sie weg! Wie stolz sie dasitzen, diese Blutsäufer! Holt sie vom Bock, Brüderchen!«
»Meine Damen …« Oberst von Semrock knallte die Hacken zusammen, machte eine zackige Verbeugung zu Anna Petrowna und Grazina hin und blickte dann Gregor an, der ebenfalls Haltung angenommen hatte. Er trug seine deutsche Uniformhose, darüber allerdings nur ein Oberhemd, durch das sich die Bandagen deutlich abzeichneten.
»Ich bin gekommen, meine Damen«, fuhr Oberst von Semrock fort, »um mit Herrn von Puttlach im Namen der Botschaft und damit im Namen des deutschen Kaisers zu sprechen. Nachdem der Herr Oberleutnant der mehrmaligen schriftlichen Aufforderung, in die Botschaft zu kommen, nicht gefolgt ist
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