Liebe in St. Petersburg
Sie saß auf der Erde, schob seinen Kopf in ihren Schoß und streichelte sein mißhandeltes Gesicht. Sie küßte ihn immer und immer wieder, und konnte doch nichts tun als warten.
Einen Augenblick lang hatte sie gedacht, sich aufs Pferd zu schwingen und Hilfe herbeizuholen, aber dann hätte Gregor hier allein auf der Erde liegen müssen. So blieb sie bei ihm, zerfetzte ihren Schleier und riß die Spitzenärmel von dem Kleid, um notdürftig seine schlimmsten Wunden zu verbinden. Ab und zu horchte sie auf seinen Herzschlag …
Wie lange sie so auf der Erde saß und Gregors Kopf festhielt, wußte sie nicht. Der Park war um diese heiße Mittagszeit menschenleer, niemand promenierte in der Sonnenglut … Sie waren völlig allein, mißhandelt, zusammengeschlagen, dem Tod näher als dem Leben – mitten in St. Petersburg!
Es war wie ein Wunder, aber nach einiger Zeit wurde Gregors Atem kräftiger. Er konnte die Beine anziehen, und als er Grazina wieder ansah, war sein Blick klarer geworden.
»Versuchen wir es«, sagte er mit pfeifendem Atem. Er wollte sich aufrichten und knirschte vor Schmerz mit den Zähnen.
»Es ist unmöglich, Grischa. Versprich mir, daß du ruhig liegenbleibst, dann hole ich Hilfe.« Sie wischte mit einem Stück des Schleiers das Blut aus seinen Augenhöhlen und drückte seinen Kopf gegen ihre Brust. »Irgendwo in der Nähe werde ich schon ein paar Menschen finden.«
»Ich verspreche es dir, Grazinanka …«, sagte er mühsam.
Sie ließ ihn vorsichtig auf die Erde gleiten und strich über sein zerschlagenes Gesicht. Dann lief sie zu ihrem Pferd, schwang sich in den Sattel und galoppierte davon, der nächsten Brücke zu, an der meistens ein Polizist stand.
Gregor wartete, bis Grazina zwischen den Alleebäumen verschwunden war. Dann wälzte er sich auf den Bauch und begann, zitternd vor Schmerz, vorwärts zu kriechen. Sein Pferd stand drei Meter von ihm, mit hängendem Kopf in der prallen Sonne, und sah ihn an. Er hob die Hand und rief leise: »Lotschka, komm her … Lotschka … komm … komm«, aber es rührte sich nicht. So kroch er weiter, Zentimeter um Zentimeter durch den Staub, legte ab und zu das Gesicht auf die Unterarme und stöhnte laut, weil das Brennen in seinem Leib nicht mehr auszuhalten war.
Endlich lag er neben seinem Pferd, benutzte das linke Vorderbein als Stütze, zog sich langsam hoch und stand, sich an den Sattel klammernd, endlich aufrecht da. Die Luft blieb wieder weg, sein Atem rasselte, die Landschaft um ihn löste sich in bunte wirbelnde Punkte auf … schwer fiel sein Kopf gegen den Sattel, die Knie versagten, aber noch hatte er die verzweifelte Kraft, sich an der Satteldecke festzukrallen. Nicht loslassen, sagte er sich. Nicht wieder hinfallen! Du stehst jetzt – du mußt stehen! Wenn du wieder auf dem Boden liegst, erstickst du im Staub …
So fanden ihn Grazina und drei berittene Polizisten. Gregor hörte ihre Stimmen nur undeutlich. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Als sie seine verkrallten Finger von der Satteldecke lösten und ihn hochhoben, als kurz darauf eine Kutsche heranrasselte und kräftige Arme ihn wegtrugen und auf ein weiches Polster betteten, als ein Arzt noch auf der Fahrt seine Wunden behandelte, nahm er das alles nur wie durch Nebelschleier wahr. Nur einmal wurde es klarer um ihn, er spürte wieder Schmerz und sagte deutlich: »Es ist alles halb so schlimm, Grazina!«
Dann fiel er zurück und verlor endgültig die Besinnung.
Ein paarmal wachte er noch auf, für einige Sekunden nur; er spürte eine große Hitze in sich, hatte dann wieder das Gefühl, im Wasser zu liegen, aber das war sein eigener Schweiß. Sein Körper wurde von Fieberschauern geschüttelt. Er erkannte Grazina, die neben ihm saß, erkannte ein Bett mit einem Spitzenhimmel, sah Anna Petrowna und manchmal einen dunklen Mann in einem schwarzen Frack – es war der Leibarzt des Fürsten Jussupoff, um dessen Beistand Michejew gebeten hatte. Und er sah auch Michejew selbst, in Generalsuniform, der auf ihn einsprach, aber Gregor war nicht in der Lage, zu antworten. Es war, als seien alle seine Nerven zertrümmert …
»Er reagiert nicht!« rief Michejew verzweifelt. »Aber der Arzt meint, daß er es überleben wird! Nur die Folgen …« Er setzte sich neben das Bett und nagte an der Unterlippe. »Vielleicht bleibt er ein Krüppel oder wird schwachsinnig …«
»Ich werde ihn immer lieben«, sagte Grazina fest und küßte Gregors heiße Stirn. »Und wenn ich ihn auf meinen Armen
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