Liebe in St. Petersburg
…«
»Ich habe nie einen Brief erhalten, Herr Oberst!« unterbrach ihn Gregor.
»Wir hatten Ihnen angeboten, Sie abzuholen und in der Botschaft gesund zu pflegen!«
»Doch ich weiß von nichts …«
»Ich habe alle Briefe zerrissen!« sagte Grazina laut. Sie stand hinter dem Schreibtisch, noch immer mit der kleinen Pistole in der Hand. Von Semrock bemerkte das erst jetzt und hob die buschigen Augenbrauen ein wenig. Fragend wandte er sich zu Anna Petrowna. Sie verstand seinen stummen Blick und hob die Schultern.
»Meine Tochter ist eine sehr temperamentvolle junge Dame, Herr Oberst«, sagte sie leichthin. »Außerdem ist man von den Michejews einiges gewöhnt. Nehmen Sie das Ganze mit Erstaunen hin; zunächst also sehen Sie, daß die Nachrichten der Deutschen Botschaft schon in der Eingangshalle unseres Hauses zum Müll weitergeleitet worden sind.«
»Das war nicht richtig, Comtesse.« Oberst von Semrock blieb steif stehen. »Die Deutsche Botschaft hat alles getan, um aus dem Überfall auf Oberleutnant von Puttlach kein Politikum zu machen, obwohl es eines war! Wir haben den Fall heruntergespielt und zu vertuschen versucht.«
»Und die Russen haben ihrerseits alles getan, um die Täter zu finden!« rief Grazina. »Vergessen Sie das nicht, Herr Oberst! Mein Vater hat alle Studenten verhören lassen. Ich selbst hätte diesen Pjotr, wie man den Schurken rief, mit der Nagaika in Stücke geschlagen!«
»Das bezweifle ich nicht, Comtesse.« Semrock blickte auf die kleine Pistole in Grazinas Hand. »Mich führt auch ein ganz anderer Befehl hierher, nachdem unsere Nachrichten …«
Grazina unterbrach ihn: »Gregor bleibt hier!«
»Der Befehl lautet, daß sich das gesamte Botschaftspersonal zur Verfügung halten muß. Ich habe den Auftrag, Herrn Oberleutnant von Puttlach unverzüglich zurück in die Botschaft zu bringen. Ein Kutscher wartet vor dem Haus.«
»Sie kann dort verrosten!« rief Grazina.
»Herr von Puttlach …« Oberst von Semrock wandte sich jetzt direkt an Gregor. »Ich weiß nicht, wie weit Sie über die Lage informiert sind. Heute morgen hat Rußland die Mobilmachung befohlen …«
»Das weiß ich, Herr Oberst«, sagte Gregor, heiser vor Erregung.
»Als Antwort darauf hat Generalstabschef von Moltke an den österreichischen Generalstabschef depeschiert, daß Österreich-Ungarn sofort gegen Rußland mobil machen soll und daß sich das Deutsche Reich anschließen wird …«
»Halten Sie den Mund!« schrie Grazina und hob die Pistole. »Und gehen Sie! Sofort!«
Oberst von Semrock zog das Kinn an und sprach weiter: »Heute mittag hat unsere Regierung den Zustand drohender Kriegsgefahr erklärt. Unsere endgültige Mobilmachung ist eine Frage von Stunden.«
»Sie sollen gehen!« rief Grazina hell. »Mein Gott, ich schieße wirklich!«
»Herr von Puttlach, in der Botschaft wird bereits gepackt. Für den Ernstfall stehen dreißig Droschken bereit, um uns zum Finnländischen Bahnhof zu bringen. Dort wartet der Sonderzug. Herr von Puttlach, die Heimat braucht uns jetzt, jeden von uns!«
Grazina schoß. Sie zielte daneben, die Kugel schlug in die Türfüllung, aber sie zischte ganz knapp an Oberst von Semrocks Kopf vorbei. Er rührte sich nicht. Er blieb starr stehen und sah Gregor ruhig an. »Der nächste Schuß trifft!« sagte Grazina tonlos. »Herr Oberst, bitte gehen Sie … Mutter, hilf du mir doch …«
Anna Petrowna schüttelte den Kopf. »Einen Mann soll man nicht zwingen«, sagte sie fast im Plauderton. »Nur ein freier Mensch ist ein guter Mensch.«
»Wenn ich mit Ihnen in die Botschaft komme«, sagte Gregor stockend, »heißt das, daß ich in den Krieg gegen Rußland ziehen muß.«
»Mit aller Wahrscheinlichkeit – ja.«
»Bleibe ich aber in Rußland …«
»Dann ist das Fahnenflucht! Oberleutnant von Puttlach, wollen Sie Ihr Vaterland verraten – wegen einer Frau?«
»Ich schieße, Mutter«, rief Grazina verzweifelt. »Mutter, ich muß ihn umbringen!«
»Und was ändert das, Comtesse?« Oberst von Semrock ging drei Schritte auf sie zu. »Bitte, bedienen Sie sich! Auf diese Entfernung können Sie meine Brust nicht verfehlen. Aber glauben Sie, daß Gregor mit dieser Belastung jemals glücklich werden kann? Er wird ein seelischer Krüppel sein.« Er drehte sich um und sah Gregor an. »Die Kutsche wartet, Herr Oberleutnant.«
»Ich kann nicht.« Gregor schüttelte den Kopf und vermied es, von Semrock anzusehen. Er drehte sich sogar um, ging zum Fenster und blickte in den Garten.
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