Liebe in St. Petersburg
Pferden. Sie stolperten dahin mit hängenden Köpfen, trüben Augen, tropfenden Mäulern. Sie machten den Eindruck, als hätte man sie betrunken gemacht.
»Eine Werst kann eine halbe Ewigkeit sein!« stöhnte Tschugarin. Jeder Schritt ließ seine Hose über das blanke Fleisch schaben. »Herr Doktor!« rief er.
»Was ist?« antwortete Telbonkin.
»Wenn Sie Herzen zunähen, können Sie auch wunde Hintern zusammenflicken?«
»Das ist schon schwieriger!« Telbonkin lachte meckernd. »Denn die meisten Leute tragen ja heute ihr Herz in der Hose …«
Das Haus von Dr. Wasja Telbonkin war eine von Palisaden umgebene Blockhütte. Sie hatte ein festes, mit Steinen beschwertes Dach und kleine Fenster mit dicken Klappläden.
Ein großer gemauerter Ofen beherrschte den gemütlichen Wohnraum. Die Möbel stammten noch aus St. Petersburg, das sah man. Es waren gute, massive, schöne Möbel. Ein Biedermeiersofa, mit Damast überzogen, ein riesiger Eßtisch mit Säulenbeinen, ein Schrank, ebenfalls voller Schnitzereien. Hinter der mittleren Glastür blinkten im Schein der Petroleumlampe wertvolle venezianische Gläser. Die Küche nebenan war bäuerlich einfach: ein gemauerter offener Herd, Töpfe, die an Ketten über dem Feuer hingen, Pfannen an den Wänden, eine Pumpe mitten im Raum.
»Ich habe das Haus um den Brunnen gebaut«, sagte Telbonkin. »Das ist im Winter gar nicht zu bezahlen.« Er zog seinen schwarzen Gehrock aus, krempelte die Hemdsärmel hoch und holte aus dem geschnitzten Schrank ein großes Tablett mit ärztlichen Instrumenten, Spritzen, Pillenschachteln, Ampullen und Salbentöpfchen.
»Bevor wir die Blinis backen, möchte ich zuerst Ihre Wunden versorgen.« Er machte vor Grazina eine Verbeugung. »Wenn Euer Hochwohlgeboren sich mir anvertrauen wollen? Gehen wir in das Nebenzimmer. Werfen Sie die Scham weg. Ich habe Damen in anderen Lagen und an anderen Stellen behandelt …«
»Ich schäme mich nicht, Doktor! Aber ich glaube, so etwas haben Sie noch nicht gesehen. Ich habe das Gefühl, als sei da nichts mehr!«
Dr. Telbonkin arbeitete schnell und geradezu vorzüglich. Er säuberte die Hinterteile und Innenseiten der Schenkel mit einer Verdünnung, die zwar höllisch brannte, aber danach angenehm kühlte. Er strich Salbe auf die wunden Stellen, puderte sie zusätzlich und legte Mull darüber. Er riet, vorerst keine Hosen anzuziehen.
»Wie kann ich ohne Hose vor die Comtesse treten?« protestierte Tschugarin und wurde verlegen. »Sie wird sich erschrecken!«
»So gewaltig bist du nicht!« meinte Telbonkin trocken. »Wickele dir eine Decke um, es geht nur darum, daß es nicht reibt.«
Später, nach dem Essen – es hatte köstliche saftige Blinis gegeben und eine Suppe aus Sauerampfer, die geradezu ein Labsal war –, saßen sich Telbonkin und Gregor an dem riesigen Tisch gegenüber. Grazina lag auf dem Biedermeiersofa, mit einer Decke zugedeckt. Tschugarin und Luschek waren zu den Pferden gegangen, um sie zu tränken und ihnen Heu zu geben.
»Sie wollen also nach Tjumen?« fragte der Arzt. »Zu Pferd …« Er zündete sich eine Pfeife an, und der Tabak stank fürchterlich.
»Anders geht es nicht, Wasja Mironowitsch. Die Züge werden kontrolliert, jede Kutsche wird untersucht, wir haben keinerlei Ausweispapiere. Für Grazina Wladimirowna wäre es kein Problem, aber mich würden sie bald entlarven. Bei der Furcht der Russen vor Spionen würde man mich sofort erschießen.«
»Wissen Sie auch, wie lange Sie bis Tjumen reiten werden?« Telbonkin paffte seine gelben Giftwolken gegen die Holzdecke.
»Dreißig bis vierzig Tage, wenn es keine besonderen Hindernisse im Ural gibt.«
»Die gibt es immer! Der Ural ist ein verteufeltes Gebirge! Sie müssen auf unbekannten Wegen hindurch, über schmale Bergpfade, durch wilde Täler …«
»Wir müssen es wagen«, sagte Gregor hart. »Ein gejagter Wolf kann sich seinen Weg nicht aussuchen.«
»Aber der Wolf kann sich wie ein Schaf verkleiden und von allen gestreichelt werden …«
»Sie denken an etwas, Doktor?« fragte Grazina von dem Sofa her. Telbonkin nickte und zog an seiner Pfeife. Er hatte, wie bei der Behandlung, die Ärmel hochgekrempelt und lehnte sich gegen die hohe geschnitzte Lehne seines Stuhls.
»Sie werden mit dem Zug nach Tjumen fahren, Hochwohlgeboren.«
»Unmöglich, Wasja Mironowitsch.«
»Gebrauchen Sie in meiner Gegenwart das Wort nicht! Unmöglich ist es für mich, an die ewige Seligkeit zu glauben … Aber um mit dem Zug nach Tjumen zu
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