Liebe in St. Petersburg
kommen … Sie werden sogar Erster Klasse fahren. Allerdings müßten Sie eine gewisse schauspielerische Begabung besitzen.«
Telbonkin klopfte die Pfeife aus, und Gregor atmete auf. »Wissen Sie, wie sich ein Mensch mit einem Parkinson-Syndrom benimmt?«
»Mit was?« fragte Gregor erstaunt.
»James Parkinson war Arzt in London und beschrieb die Paralysis agitans, schlicht ausgedrückt: die Schüttellähmung. Gebückte Haltung, Verlangsamung aller Bewegungen, Abklingen seelischer Regungen, Wackeln und Schütteln des Kopfes, der Arme und Beine, ein elender Anblick! Aber es wäre eine Krankheit, mit der man unangefochten nach Tjumen käme!«
»Ich soll so einen armen Menschen spielen?« fragte Gregor entsetzt. »Und wer soll mir diese schreckliche Krankheit glauben?«
»Wer will beurteilen, ob Sie simulieren? Die Kontrollen des Militärs? Die Polizei? Die Geheimdienstleute? Die Bahnbeamten? Die einzelnen Stadien dieser Krankheit sind sehr differenziert. Sie spielen einen Parkinson im fortgeschrittenen, aber noch erträglichen Stadium. Und Sie reisen auf ärztliche Anweisung zu einem Spezialisten nach Tjumen.«
»Gibt es dort einen?« fragte Grazina.
»Wer will das nachprüfen! Weiß ich es? Wenn die Kontrolleute Sie anblicken, wackeln Sie mit dem Kopf und lassen Speichel aus dem Mund tropfen … das wirkt ungemein! Man wird Sie nicht belästigen, ja, im Abteil sogar allein lassen, denn für einen gesunden Menschen ist ein solcher Kranker keine erfreuliche Reisebekanntschaft.«
»Und ich?« fragte Grazina.
»Sie werden zu der Krankenschwester, die den Patienten begleitet! Ich gebe Ihnen eine Schwesternhaube – ich habe noch genug herumliegen aus meinen Hospitalstagen. Keiner wird eine Krankenschwester nach ihrem Ausweis fragen. Die Achtung der Russen vor allen Erscheinungsformen der Medizin ist ungeheuerlich!«
»Und Luschek und Tschugarin?«
»Drei Parkinsons können wir nicht auf Reisen schicken, das ist wirklich unmöglich!« meinte Telbonkin einsichtig. »Aber Invaliden müssen sie werden. Könnte Ihr Bursche blind werden, Herr Oberleutnant?«
»Luschek kann alles spielen, Wasja Mironowitsch. Er ist ein Genie im Verstellen.«
»Gut! Und Tschugarin ist einseitig gelähmt und führt den Blinden. Natürlich dürfen sie nicht Erster Klasse reisen, sondern müssen sich möglichst entfernt von Ihnen halten.«
Telbonkin begann, seine Pfeife erneut mit dem scheußlichen Tabak zu stopfen; dicke schwefelgelbe Wolken schwebten durch das Zimmer. »Wir müssen das üben, meine Herrschaften! Aber es wird sich lohnen! Sie werden Tjumen in einem warmen Polster erreichen und nicht auf einem durchgerittenen Sattel und mit einer Lederhaut am Gesäß!«
Drei Tage lang studierten sie ihre Gebrechen ein. Gregor beherrschte bald die Kunst, zitternd und sich schüttelnd zu gehen und ein möglichst stupides Gesicht zu machen. Wenn Telbonkin ihn ansprach: »Na, wer ist denn das?«, begann er Speichel aus dem Mund tropfen zu lassen, bis der Arzt: »Bravo! Vorzüglich! Das geht unter die Haut!« rief. Grazina führte Gregor dann vorsichtig weg, unterstützte ihn, und er schwankte an ihrem Arm weiter, daß es ein wirkliches Erbarmen war.
Tschugarin hatte es einfacher. Er humpelte links und zog das Bein nach, und Luschek spielte den Blinden. »Das kann ich gut!« rief Tschugarin. »Links hat mich mal ein Pferd getreten. Da bin ich drei Wochen so gelaufen. Das macht mir keiner nach!«
Luschek übertrieb natürlich wieder. Er tappte herum, krachte mit dem Kopf gegen Türen und Balken, stierte ins Leere und tastete sich an den Wänden entlang, bis er vor dem Schrank stand, ihn öffnete und eine Flasche Wodka herausholte.
»Der erste Akt steht!« sagte Dr. Telbonkin nach diesen drei Tagen zufrieden. »Nun wird sich zeigen, ob das Publikum mitgeht!«
Er füllte ein ärztliches Attest aus, unter dem noch das Siegel des zaristischen Hospitals von St. Petersburg stand – Telbonkin hatte eine Menge Blankoformulare mitgenommen, als man ihn wegjagte, und die Formulare erwiesen sich als pures Gold, denn für einen Russen ist ein amtlicher Stempel wie ein Händedruck Gottes. Er schrieb in das Attest: Morbus Parkinson, zur Verlegung nach Tjumen in Spezialbehandlung von Professor Dr. Maxim Jewgenjewitsch Ponomajow , den es natürlich nicht gab, und setzte eine schwungvolle, aber unleserliche Unterschrift darunter.
»Das wäre es!« sagte er stolz und schwenkte das Formular. »Damit könnten Sie eigentlich bis Wladiwostok am Japanischen
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