Liebe in St. Petersburg
Trotzdem wagten es die wenigsten, sie anzubrüllen. Ein Steuereintreiber hatte es einmal gewagt: Er lag dann sechs Wochen im Krankenhaus und pflegte seine Rippen. Außerdem ließ er sich in einen anderen Bezirk versetzen …
»Hinein ins Haus!« kommandierte Tante Wanda. »Das muß besprochen und überlegt werden. Glaubt ihr, hier seid ihr sicher? Die Kommissionen schnüffeln überall!« Sie warf einen Blick auf den Kutscher aus Tjumen, der es bei dieser rabiaten Dame nicht gewagt hatte, vom Bock zu klettern. »Und du, Söhnchen? Bist du bezahlt worden?«
»Es ist alles geregelt«, stotterte der arme Mann.
»Schirr ab, führ die Gäule in den Stall, melde dich bei Nikolaus, dem ersten Knecht, und laß dir ein Lager und zu essen geben. Und einen Rubel von mir bekommst du extra, weil du so gut gefahren bist!«
»Gott segne Sie …«, murmelte der Kutscher.
»Gott wird uns einen Teufel tun!« bellte Tante Wanda. »Hier segnen wir uns selbst, wenn wir den nächsten Winter überlebt haben …«
In den nächsten vierzehn Tagen geschah nicht viel in Nowo Prassna. Zwar durchstreiften Militärkommissionen das Gebiet um Tobolsk, aber sie erfuhren nichts von den Neuankömmlingen bei der Prochkowa – in solchen Fällen hält man zusammen, denn Tante Wanda wurde überall geliebt und respektiert.
Von Rasputin hörte man, daß es ihm besser gehe und er dauernd Telegramme an Papa und Mama schickte und sie anflehte, einen Weg zum Frieden zu suchen. In Petersburg lachte man darüber, vor allem Großfürst Nikolai Nikolajewitsch. Gegen Deutschland und Österreich stand jetzt die halbe Welt, und wenn es so weiterging, würde es kaum einen Staat geben, der sich nicht als mit Deutschland im Kriegszustand betrachtete. Was soll da das Geplapper und Lamentieren des dreckigen Mönchs aus Sibirien?
Tschugarin hatte sein Quartier bei der jungen Witwe Larissa Olegowna aufgeschlagen, die ihm jubelnd um den Hals fiel. Er war dreimal in Nowo Prassna gewesen, und so hatte Larissa drei Kinder im Alter von neun, vier und zwei Jahren. Stolz stellte Fjodor Iwanowitsch sie und die Kleinen Luschek vor.
»Sie ist noch jung, mein Freund!« grölte er und Larissa rieb sich die Schenkel. »Sie kann noch viele Kinder kriegen! Und sie ist verrückt nach mir! Und sieh, wie sie mir treu geblieben ist! Kein Kind mehr von einem anderen!« Dann war ihm das viele Reden zuviel, er schob Larissa in den Nebenraum der Hütte, nickte Luschek grinsend zu und schloß die Tür. Luschek verließ recht angeregt das Haus und blickte die Dorfstraße hinunter.
Es war ein glücklicher Zufall, daß gerade in diesem Augenblick Latifa Kolontorowa über die Straße ging, an einem breiten Holzjoch zwei Eimer auf den Schultern schleppend. Sie hatte große braune Rehaugen, ein unschuldiges Gesichtchen, vom Teufel modellierte Brüste und einen Gang, der einem zu Kopf steigen konnte.
Die Dorfschöne lächelte Luschek an, ließ die Eimer pendeln und schritt weiter. Er pfiff durch die Zähne, dachte einen kurzen Augenblick an Alla in Trasnakoje und beruhigte sein Gewissen mit der Feststellung, daß Trasnakoje leider im Augenblick nicht erreichbar war. Dann zog er seine Hose am Bund höher und holte die rehäugige Latifa rasch ein.
»Wohin, Kleene?«
Es gibt Vokabeln, die versteht man überall. Und Latifa antwortete süß: »Na pravo!« – was soviel heißt wie ›Nach rechts!‹
Und Luschek schleppte ihr die Eimer nach Hause und war von da an regelmäßiger Gast bei Latifa. Er arbeitete wie vier Pferde, grub um, ackerte, schnitt das Korn und zog nach dem Abendessen Latifa aus, was beinahe jedesmal eine feierliche Handlung war.
Im Herrenhaus hatte Tante Wanda etwas getan, was den alten Michejew veranlaßt hätte, nach seinen Pistolen zu greifen: Sie hatte Gregor und Grazina ein Zimmer mit einem breiten Bauernbett gegeben. Als die beiden etwas betreten davorstanden und sich stumm anblickten, hatte Tante Wanda gebrummt: »Stellt euch nicht so an! Ihr seid doch verlobt und werdet heiraten. Hier ist nicht St. Petersburg mit seinen heuchlerischen Sitten … hier ist Sibirien – und Natur heißt bei uns auch Natur!« Damit ging sie hinaus und verschloß die Tür.
In der Nacht lagen Grazina und Gregor nebeneinander, eng, Körper an Körper, Haut an Haut, und nun wissend, daß sie ineinander aufgegangen und nun unlösbar miteinander verbunden waren für die Zeit ihres Lebens.
»Gott lebt in Sibirien«, sagte Grazina leise und küßte seine nackte Schulter. »Jetzt weiß ich es
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