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Liebe in St. Petersburg

Liebe in St. Petersburg

Titel: Liebe in St. Petersburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ganz genau …«
    Nach vierzehn Tagen Ruhe polterte eines Morgens Tante Wanda ziemlich wütend vor dem Frühstück in den ›Blauen Salon‹, der so genannt wurde, weil in ihm sich der selige Prochkow am liebsten zu betrinken pflegte. »Ich weiß nicht, was alles los ist!« dröhnte die Tante und setzte sich an den Tisch. »Schwägerin Anna Petrowna schickt mir ein Telegramm …«
    »Nachricht von Mama?« rief Grazina und sprang auf. »Was schreibt sie? Wie geht es ihr?«
    »Später!« Wanda Timofejewna winkte ab. »Das ist das eine. Und dann kommt der alte Jurij und erzählt mir etwas von einem Agitator, der umherzieht und die Bauern aufhetzt, den Zaren wegzujagen. Aber keiner hat den Kerl gesehen! Heimlich sollen die Leute zusammenkommen, in Wäldern, am Flußufer, in Erdhöhlen. Und Schriften tauchen überall auf, in denen steht: ›Alles gehört euch, dem Volk! Es wird keine Reichen und keine Armen mehr geben, nur noch den Sozialismus!‹« Sie holte tief Luft und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Tassen klirrten. »Doch noch nicht genug! Auch mein Pope wird wild! Er predigt nicht nur, er wird Politiker, sammelt seine Gläubigen um sich und bleut ihnen ein: ›Rußland muß ein Land der Kirche werden! Nur mit dem Kreuz in der Hand läßt sich dieses Land blühend machen!‹ Das läßt er aufsagen, singen, beten, an die Wände schreiben! Ja, ist denn alles verrückt geworden? Und dann noch Tannenberg …«
    »Was ist mit Tannenberg?« fragte Gregor, und sein Atem stockte. In Ostpreußen steht unsere achte Armee, dachte er. Im Raum Hohenstein – Gilgenburg – Ortelsburg …
    »Die Deutschen haben die Narew-Armee vernichtet und haben dreiundneunzigtausend Gefangene gemacht. Dazu das ganze Material erbeutet …« Wanda Timofejewna holte aus einem Elfenbeinkasten eine ihrer dicken schwarzen Zigarren, biß die Spitze ab und rauchte sie an. »Mach dir nicht vor Freude in die Hose, Gregorij! Das ist eine Katastrophe für Rußland, und dein herrlicher Schwiegervater steckt mitten drin! Mußte er auch General werden? Hatte er das nötig? Aber nein, ein Michejew muß Epauletten tragen, muß einen Großfürsten zum Freund haben, muß Orden klimpern lassen …«
    Sie griff in ihre derbe Bauernbluse und holte eine Depesche hervor.
    »Steht alles da drin!« knurrte sie. »Ein Wunder, daß die Zensur das hat durchgehen lassen!«
    Anna Petrowna ließ ›ihre lieben Kinder‹ grüßen und teilte mit, daß es ihr gutgehe. Ja, und der General sei bei Tannenberg geschlagen worden. Es folgten Zahlen der Niederlage, und Gregor ahnte, daß diese Depesche mit innerer Wonne aufgegeben worden war. Würde Rußland an Tannenberg, der ersten großen Wunde, ausbluten? Dämmerte Anna Petrownas ›neue Zeit‹ herauf?
    »Armes Väterchen«, sagte Grazina leise und gab das Telegramm an Tante Wanda zurück.
    »Ein Irrer ist dein Vater!« bellte Tante Wanda. »Könnte er nicht hier sein und ruhig leben? Ach, was habe ich mich heute schon aufgeregt! Es scheint ein schöner Tag zu werden!«
    Nach dem Frühstück ritten Grazina und Gregor am Ufer des Tobol entlang nach Süden. Fünf Werst weiter lag das Dorf Pestrawka. Dort gab es eine Kirche und einen Popen, der Semjon Lukanowitsch Tujan hieß – ein noch junger Priester, der reden konnte wie der Erzengel mit dem Flammenschwert. So sagte man jedenfalls in Nowo Prassna, und sonntags fuhr oder ritt alles nach Pestrawka.
    Der noch junge Pope war in der Kirche und putzte einen vergoldeten Leuchter, als Gregor und Grazina eintraten. Grazina legte einen Goldrubel auf den Kerzentisch, nahm eine neue große Wachskerze aus dem Halter, zündete sie an und steckte sie vor dem Bild der Mutter Gottes in den vierreihigen eisernen Kerzenhalter.
    Tujan beobachtete, wie Grazina niederkniete und stumm betete. Gregor stand hinter ihr, die Hände ineinandergelegt.
    »Hast du Gicht in den Knien?« fragte der Pope Tujan plötzlich. Gregor wandte sich zu ihm um und musterte ihn. Ein junges asketisches Gesicht, das nur durch den Vollbart älter wirkte – unter der Soutane ein kräftiger muskulöser Körper – Hände, die zupacken konnten.
    »Ich bete nicht!« sagte Gregor ebenso hart.
    »Aha! Und wenn Gott dich ruft …?«
    »Ich habe ihn noch nicht gehört, Väterchen.« Es war lächerlich, einen so jungen Popen Väterchen zu nennen, aber jeder tat es.
    »Wenn du erlaubst!« Tujan kam näher, und als er bei Gregor stand, holte er plötzlich aus, um den Ungläubigen aufs Haupt zu schlagen. Gregor aber war

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