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Liebe in St. Petersburg

Liebe in St. Petersburg

Titel: Liebe in St. Petersburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Auftrag geben konnte …«
    »Mein Vater? Nie!« Grazina sprang aus der Kutsche und reckte sich. Sie waren die ganze Nacht über gefahren. Jetzt überzog die Morgensonne den Himmel mit einem Goldschleier und saugte den letzten mageren Tau aus den Gräsern. Ein wolkenloser Tag, sogar der sonst lehmige Tobol schimmerte klar und rein. »Das war Tante Prochkowa! Vater war zweimal hier und nannte alles scheußlich. Von Nowo Prassna sprach er überhaupt nie wieder, weder in Petersburg noch auf Trasnakoje. Hier gibt es noch mehr Wunderdinge …«
    In diesem Moment flog die Eingangstür auf und krachte gegen die bemalte Mauer. Eine hochgewachsene, schlanke grauhaarige Frau trat aus dem Haus. Sie hatte ihr Haar in kleine Locken gedreht, trug einen langen, bis zur Erde reichenden Rock aus dünnem Elchleder, darüber eine Bauernbluse aus grobem Leinen. Die Frau rauchte eine lange schwarze Zigarre. Ihre grauen, sehr lebendigen Augen musterten die drei Männer, die oben auf dem Kutschbock hockten. Grazina, die auf der anderen Seite ausgestiegen war, wurde noch von der Kutsche verdeckt.
    Gregor zuckte unwillkürlich zusammen, als die Frau mit tiefer, dröhnender Stimme rief: »Zum Teufel, ist das nicht Fjodor Iwanowitsch Tschugarin? Der Kerl, der überall, wo er auftaucht, Kinder hinterläßt!«
    Tschugarin zog ehrfürchtig seine Kappe und grinste breit. »Ich bin's, Euer Hochwohlgeboren!« Der arme Kutscher aus Tjumen starrte die Frau entgeistert an und war gelähmt gleich dem Kaninchen, das einer Schlange begegnet. Nur Luschek sagte aus tiefster Brust:
    »Die könnte ooch in Wedding leben …«
    Grazina zog Gregor aus der Kutsche und lachte leise. »Das ist Tante Wanda Timofejewna! Nur einer hat es gewagt, sie zu heiraten: Onkel Prochkow. Sie waren glücklich, bis Onkel Prochkow in einen rostigen Nagel trat. Man hat ihn noch nach Tjumen gebracht und das Bein amputiert, aber er starb trotzdem an Blutvergiftung. Es hat sich danach nie wieder einer gefunden, der Tante Wanda geheiratet hätte, und sie war damals erst fünfunddreißig Jahre alt! Jetzt ist sie wohl zweiundsechzig …«
    »Was machst du Halunke allein in Sibirien?« schrie Tante Wanda und zog an ihrer Zigarre. »Warum bist du nicht an der Front wie jeder anständige Russe? Schickt dich mein Bruder, he? Und wer ist das neben dir? Nein, nicht der Kutscher … der lange, dämlich grinsende Kerl …«
    »Ein Segen, daß Luschek kein Russisch versteht«, flüsterte Gregor hinter der Kutsche. »Wir sollten jetzt in Erscheinung treten.«
    »Nicht so, Grischa.« Grazina hielt ihn fest, der Übermut strahlte aus ihren Augen. »Paß einmal auf, was jetzt geschieht!«
    Sie legte die Hände wie einen Trichter an den Mund und holte tief Atem. Und dann sang sie:
    »Ziehet an – ziehet an –
Kannst dich wehren, großer Strom,
Unsere Fäuste sind die stärkeren …«
    Das Lied der Tobolschiffer, wenn sie die schweren Lastkähne an dicken Seilen gegen den Strom den Fluß hinaufzogen, nach vorn gebeugt, die Hände in den Tauen verkrallt und mit Säcken auf den Schultern, damit das Seil nicht so tief ins Fleisch schnitt.
    Wanda Timofejewna Prochkowa nahm die Zigarre aus ihrem Mund. Sie schwenkte sie über ihrem grauen Lockenkopf wie eine Fahnenstange. »Grazinanka!« brüllte sie. »Grazina, komm her, du Luderchen! So eine Freude! Laß dich umarmen! Und der Hurenkerl auf dem Bock sagt mir nichts! Ich lasse dich kastrieren, Fjodor Iwanowitsch!«
    Sie breitete die Arme aus, und so blieb sie, ehrlich erstaunt, stehen, als zuerst Gregor hinter der Kutsche vorkam.
    »Noch ein Mann?« dröhnte ihre Orgelstimme. »Verlagert sich der Krieg an den Tobol? Mein Täubchen, wen bringst du da mit?«
    Grazina fiel ihrer Tante um den Hals und sagte dann: »Das ist mein Verlobter, Gregor von Puttlach. Wir sind auf der Flucht …«
    »Dein Verlobter!« Tante Wanda gab Gregor die Hand. Es war ein Händedruck wie unter Männern, kräftig und herzlich. »Dem Namen nach ein Deutscher!«
    »Ich bin Deutscher, Wanda Timofejewna, Oberleutnant der Ulanen. Da oben auf dem Kutschbock sitzt mein Bursche Luschek – aus Berlin!«
    »Eine Luxusflucht, man soll's nicht für möglich halten!« sagte die Prochkowa. »Kommen daher mit Kutsche, Bursche, Leibdiener, und Tante Wanda soll sie verstecken!«
    »So haben wir uns das gedacht«, antwortete Gregor forsch. Es hatte keinen Sinn, mit Wanda Timofejewna anders zu reden als in dem Ton, den sie selbst gebrauchte. Wer vor ihr katzbuckelte, war in ihren Augen ein Idiot.

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