Liebe Isländer: Roman (German Edition)
Zufall? Der König des Swing höchstpersönlich, gerade zwischen Chicken-Nugget zwei und drei, schaut auf michmit einer Art Trostlächeln, das scheinbar sagt: »Okay, mein Junge, du bist auf neuem Terrain angekommen. Es kann hier etwas rutschig werden. Sieh dich vor!«
Der Geruch des frisch gewischten Fußbodens verdirbt mir den Appetit. Ich setze mich und beginne den Tag mit einem Champions-Frühstück, Kaffee und einer Zigarette.
Die meisten im Raum trinken für einen Hunderter endlos Kaffee und schauen auf den großen Fernseher über der Theke. Kristinn Björnsson kämpft im Slalom um den Skiweltcup. Und scheint ihr Mann zu sein.
»Wo kommt er her, dieser Junge? Er ist doch aus Reykjavík, oder?«
»Nein-nein-nein. Der ist aus Siglufjörður.«
»Nein, er ist aus Ísafjörður.«
»Ach, ist er aus Ísafjörður? Ach so.«
Ich mache meine Eintragungen in das Fahrtenbuch und überlege, was ich mit dem Tag anfangen soll. Finde es nicht einfach, in den Reisegang umzuschalten. Zwischen einer Reise und Urlaub besteht ein großer Unterschied. Reisende versuchen, zu erwachen und zu entdecken, Urlauber jedoch, sich zu vergessen. Reisende im eigenen Land müssen die Augen in eine vertraute Umgebung versenken, wenn sie etwas sehen möchten. Über die Touristen hingegen fällt die fremde Umgebung her. Reisende im eigenen Land sind »zu Hause« und trotzdem auf Reisen. Touristen fahren von zu Hause weg und versuchen, möglichst mühelos mit der Umgebung zu verschmelzen. Sie sind im Urlaub und möchten sich vergessen. Das ist zweifellos der Grund dafür, dass isländische Urlauber im Ausland dazu neigen, sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Einen anderen Isländer zu treffen ist wie in einen Spiegel zu sehen, da kann man sich nicht mehr vergessen. Touristen sind nach außen gewandt und wollen alles betrachten außer sich selbst. Reisende wiederum befinden sich häufig auf der Suche nach sich selbst oder in Selbstbetrachtung. Obwohl Reisende hauptsächlich auf innerer Wanderschaft sind, müssen sie trotzdem unterwegs sein, weil sonst der Spiegel fehlt. Touristen sind darum bemüht,sich selbst hinter sich zu lassen, Reisende jedoch, sich selbst näher zu kommen. Das ist womöglich wie der Unterschied zwischen der Lektüre von
Gesehen und gehört
– der isländischen
Bunten
– und
Unabhängige Menschen
von Halldór Laxness. Die nächsten zwei Monate werde ich versuchen, unabhängige Menschen zu treffen.
Als Geirmundur aufsteht und sich einen Zahnstocher holt, werden die Verkäuferinnen verlegen und lächeln sich gegenseitig nervös an. Der König steckt sich den Zahnstocher in den Mund und geht aus dem Saal. Gleichzeitig fährt Kristinn Björnsson durchs Ziel und landet auf dem zweiten Platz.
Jemand sagt: »Guck! Der aus Ísafjörður.«
Der erste Reisende
In Borgarnes gibt es verborgene Viertel, und alles befindet sich immer irgendwie hinter dem nächsten Hügel. Der Ort ist beinah vergoldet unter dem wolkenlosen Himmel, und das Ufer liegt in versilberten Bändern von Eisformationen. Besonders das Viertel rings um das Hotel ist schön, die Häuser sind alt und die Anordnung unübersichtlich. Angenehm natürlich und ohne dieses System, das oftmals mit dem Wort Stadtviertel verwechselt zu werden scheint. Während ich im Schneckentempo durch die Straßen rolle, kommt Bewegung in einzelne Küchengardinen, ansonsten aber ist niemand auf den Beinen.
Trotz vieler ansehnlicher Einfamilienhäuser, einiger Häuserblöcke und eines großen Hotels wirkt der Ort wie etwas, das nie entstand. Oder erst noch im Entstehen begriffen ist. Ein Anfang liegt in der Luft, und die Stimmung auf den leeren Gehwegen ist die gleiche wie am Neujahrstag. Als ob sich etwas im Aufbruch befände. Wahrscheinlich nur der erste Reisende. Ich fahre eine Stunde lang herum. Egal in welche Richtung ich mich wende, den Schildern an jeder zweiten Ecke zufolge bin ich immer auf dem rechten Weg ins »Sportcenter«. Da ich keine Ahnung habe, was man in diesem Ort sonst machen kann, lande ich genau dort.
Das Sportcenter wird seinem Namen gerecht. Pokale an allen Wänden hoch, Innen- und Außenschwimmbecken, Hot Pots und dort ein junges verliebtes Pärchen. Die beiden halten sich verlegen umschlungen und scheinen sich zu bemühen um die etwas verstimmte Freundin, die neben ihnen sitzt. Es ist beinah, als wärmten sie im Hot Pot irgendein Hollywood-Klischee auf und spielten sich selbst. Nichtentspannt genug. Und die Freundin seufzt, fünfzehn Jahre alt
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