Liebe Isländer: Roman (German Edition)
oder irgendwo ein Paar baumelnde Beine zu erblicken.
Als ich die Einfahrtstraße zum Hof wieder hinunterfahre, brechen aus dem Dunkel vor dem Haus Autoscheinwerfer hervor. Das Auto kommt angefahren und hält neben Lappi an. Wegen der Dunkelheit sehe ich weder, was für ein Auto das ist, noch wer darin sitzt. Ich öffne die Scheibe, wünsche der Dunkelheit einen guten Abend und höre einen schrill und schnell sprechenden Mann »Einen guten Abend« sagen. Dann folgen wunderliche und abgehackte Atemgeräusche.
Es durchfährt mich, dass er mich möglicherweise die ganze Zeit beobachtet hat, und ich sage: »Ich bin auf dem Weg nach Ísafjörður, aber ohne Spikes, und ich schaffe es nicht die Steigung hinauf hier ein Stückchen weiter im Fjord. Die Leute von Ögur haben gesagt, du könntest mir möglicherweise Schneeketten leihen.« Ich erwähnte Ögur, um ihm klarzumachen, dass es Leute gab, die von mir undmeinen Unternehmungen wussten und mich auch zurückerwarteten.
Wieder waren diese wunderlichen Sauggeräusche zu hören. Er hatte so eine fürchterliche Nasenmarotte. Ständig schniefend und prustend. »Ja … Ketten. (Schniefen). Glätte? Ja, die Steigung. (Prusten). Nein, Ketten. Nein, ich habe keine Ketten für solche Reifen. Sechsunddreißig Zoll. (Schniefen). Oder nicht. (Schniefen)?«
»Oh, doch, das sind Sechsunddreißig-Zoll-Reifen.«
»Nein. Nein (Schniefen). Nein, keine Ketten. Hast du keinen Sand dabei? Salz? (Schniefen, Prusten, stärkeres Prusten). Manchmal war es meine Rettung, etwas zu streuen. Streuen (Prusten). Ging es nicht, am Rand (Schniefen) hochzufahren?«
Im Dunkel zeichnen sich ein Anorak und eine Glatze ab, doch am größten ist mein Verlangen danach, diese fürchterliche Nase zu sehen. Was versucht der Mann da zu lösen? Ein Ersatzteil?
»Nein, das ging nicht. Hattest du keine Probleme?«
»Nein. Mit Anhänger. Habe Spikes. (Schniefen).«
»Hat der Hänger auch Spikes?«
»Nein, der Wagen. (Prusten). Der Wagen. Mit Spikes.«
»Ach so. Und du hast keine Schneeketten?«
»Nein.«
Schweigen.
»Ja. Also. Danke trotzdem.«
»Ja.«
»Wiedersehen.«
Schniefen.
Wieder auf Ögur. Als ich von meiner Begegnung mit dem Autoteilesammler berichtet habe, wiederholt die Hausfrau ihr Angebot, bei ihnen zu übernachten. Ich nehme es dankend an und setze mich an den Küchentisch. Sie setzt sich mir gegenüber mit einem zappeligen dreijährigen Knirps im Arm. Der Bauer sitzt in der Stube und schaut mit den Kindern noch einen Trickfilm. Sie scheint müde und starrtmal an die Decke, mal auf den Fußboden. Zwischendurch versucht sie, den Jungen zu bändigen, der ein besonderes Interesse für die silberne Zuckerdose auf dem Tisch an den Tag legt.
Ich schaue aus dem Fenster. Die Dunkelheit ist schwärzer als der Kaffee in meiner Tasse. Sehe dann zu ihr und frage, ob es nie einsam sei, an so einem Ort zu wohnen.
»Doch, doch, natürlich, das kann es sein«, antwortet sie kraftlos, scheint aber froh über die Frage. »Früher war das anders, als wir sechs Kinder hatten. Und die Lastwagen kommen hier auch nicht mehr vorbei. Sie fahren mit der Fagranes, und es ist schwieriger geworden, die Dinge, die man braucht, hierher zu schaffen.« Sie erzählt mir, dass ihre sechs Kinder in Ísafjörður und in der Stadt wohnen, in Reykjavík. Der Racker in ihren Armen und die beiden anderen in der Stube seien Enkelkinder. Dann schweigt sie und wischt imaginären Staub vom Tisch.
Ich frage sie nach der Viehwirtschaft, und sie erzählt, dass sie zweihundert Schafe hätten. »Es ist schwierig geworden, nachdem die Quote gekürzt wurde. Wenn wir jetzt aufhören würden, bekämen wir siebenhunderttausend für alles zusammen.«
Der Bauer kommt in die Küche. »Hatte er keine Ketten, der Gute.«
»Nein. Ich glaube, er hat alles außer Ketten.«
Er lächelt spöttisch, und mir ist, als scheint es ihm unwahrscheinlich, dass der keine Ketten hat. Ich kann nicht ganz erfassen, wem von uns beiden er nicht glaubt, mir oder dem Ersatzteilsammler. Er schaut einen Moment in die Dunkelheit hinaus. »Heute Nacht soll es fünf Grad warm werden. Wenn es weiter so windig ist, müsste das Eis heute Nacht tauen.« Dann geht er wieder in die Stube.
Die Frau erzählt weiter über ihre Kinder und Enkelkinder: »Sie kommen alle zu Weihnachten hierher. Dann ist hier Trubel und Leben. Aber hinterher ist es umso leerer. Hast du schon was gegessen?«
Ich habe keinen Appetit nach dem Vorkommnis auf dem Hang und lehne dankend ab, nehme
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