Liebe Isländer: Roman (German Edition)
dann, wie das Leben in Súðavík sei.
»Ach, wie überall. Du weißt, es hat Vor- und Nachteile.« Sie sah, dass ich auf ein wenig ausführlichere Erklärungen hoffte, stellte das Poliermittel zur Seite und legte das Tuch weg, lehnte sich wieder gegen den Tresen und setzte fort: »Zuerst einmal bist du hier jemand. Du bist nicht nur irgendwer, so wie in Reykjavík. Daher ist es zum Beispiel für mich wesentlich leichter, mit dem Bankdirektor zu reden, als für die Leute im Süden, in Reykjavík, kann ich mir vorstellen.« Sie sah aus dem Fenster und überlegte einen Moment. »Und es ist natürlich wunderbar, hier Kinder zu haben. Man weiß genau, wo sie tagsüber sind. Wenn sie etwas anstellen, erfährt man es sofort.«
»Und die Nachteile?«
»Es gibt hier natürlich nicht viel, und die Abwechslung ist nicht groß. Oder wie wir sagen, wenn du etwas im Kaufladen nicht bekommst, dann brauchst du es auch nicht. Die Krankenstation ist nur einen Tag die Woche offen und so. Manchmal möchte man auch ins Kino oder ins Theater oder sich vergnügen. Aber dann fährt man einfach nach Süden.«
»Ist das nicht etwas weit?«
Sie lächelte. »Doch, aber wir amüsieren uns auch gut«, schwieg dann und sah aus dem Fenster. »Das ist sonderbar mit diesen Leuten, die nach Reykjavík ziehen, um ins Leben einzutauchen. Wenn man dann in die Stadt fährt und sie besucht, stellt sich heraus, dass sie nichts unternommen haben, seit man sie das letzte Mal gesehen hat. Nichts anderes, als zu Hause im Wohnzimmer zu sitzen und fernzusehen oder Videos zu gucken.«
Ich lachte, doch sie fuhr fort: »Wenn wir nach Reykjavík fahren, dann nutzen wir voll aus, was die Stadt zu bieten hat. Machen was losfür drei, vier Tage. Gehen ins Kino, ins Theater, zum Essen aus, tanzen. Und fahren dann einfach wieder in Ruhe nach Hause. Bestimmt ziehen wir einen viel größeren Nutzen aus der Stadt als viele Reykjavíker, die immer sagen, dass sie sich nicht vorstellen könnten, draußen auf dem Land zu leben, die aber nie etwas unternehmen.«
Ich stand auf, um mir noch mal Kaffee einzuschenken, war aber immer noch halbwegs unsicher wegen der Dose und wollte wieder etwas Geld hineinstecken. Da sagte die Verkäuferin: »Mein Lieber, mach dir nur nicht so einen Stress damit. Es reicht, einmal am Tag was reinzustecken.«
Ich setzte mich und wollte sie nach den Schneelawinen fragen, fühlte mich aber irgendwie befangen. Ich hatte bemerkt, dass sie sie nicht erwähnte, als sie über die Nachteile sprach. War es immer noch eine zu schmerzliche Sache? Hatte sie vielleicht jemanden verloren? Das war eigentlich mehr als wahrscheinlich. Geschwister, eine Freundin, einen Bekannten. Hier kannten sich alle. Doch sie war so fröhlich und unbeschwert, dass ich beschloss, es zu wagen: »Sag mal, kam die Lawine da runter, wo die neuen Häuser stehen?«
Sie sah auf. Die Frage schien sie nicht zu treffen und das Thema nicht sensibler zu sein als jedes andere. »Nein nein, die ging direkt hier oberhalb des Kiosks ab.« Sie zeigte aus dem Fenster: »Dort, wo die Giebel stehen. Aber alle hatten gedacht, wenn das passieren würde, käme sie dort runter, wo die neuen Häuser stehen, aber nicht direkt hier oberhalb.«
»Hast du damals hier gewohnt?«
»Nein, da wohnte ich noch in Bolungarvík.«
»Findest du es nicht schwierig, an einem Ort zu leben, über dem solch eine Gefahr schwebt?«
»Wie ich schon sagte, es gibt Vor- und Nachteile, überall. Man muss sich nur an die Gegebenheiten anpassen, lernen, die Situation abzuwägen und einzuschätzen. Man gewöhnt sich schnell daran, und es wird zu einem Teil des Lebens hier. Das ist einfach so.«
Ich fand es bewundernswert, über wie viel Gelassenheit sie verfügte.Als ob es etwas wäre, womit sie ihren Frieden geschlossen hätte, und es ausgezeichnet fände, mich darüber aufzuklären, den Dahergereisten, der nicht das Gesamtbild sah, sondern ausschließlich abgehende Lawinen.
Sie ging zur Kaffeekanne und schenkte sich einen Kaffee ein. »Die stark befahrene Miklabraut in Reykjavík ist sicher viel gefährlicher als all das hier. Und ich würde auf keinen Fall mit dem permanent drohenden Riesenerdbeben im Südland leben wollen.«
Ich erzählte ihr, dass ich auf Ögur von einer Frau gehört hätte, die vor vielen Jahren ihren Sohn durch eine Schneelawine bei Óshlíð und dann eine Tochter und ein Enkelkind durch die Lawine in Súðavík verloren hätte. Fragte sie dann, ob sie mehr über diese Óshlíð-Lawine
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