Liebe Isländer: Roman (German Edition)
sein, dass es nicht möglich ist, das Auto auf so einem glatten Gefälle zu ziehen. Was soll ich tun?
Im Soziologie-Kurs am M.-H.-Gymnasium haben wir gelernt, dass Personen, die von ihrem nahen Ende erfahren, durch vier Stadien gehen: Zuerst kommt der Schock, dann sind sie wütend, als Nächstes haben sie Angst, und am Ende sind sie zufrieden. Im Auto hatte sich mir nicht mehr Zeit geboten, als direkt in die Zufriedenheit zu springen, doch jetzt schwanke ich zwischen den anderen drei Stadien. Abwechselnd bin ich schockiert und angsterfüllt und dann wieder so wütend, dass ich gegen dieses verdammte Auto treten könnte. Wie weit ist es bis zum nächsten Hof? Fünf Kilometer? Fünfzig? Und zu versuchen, das Auto von der Seite zu schieben, es so wieder auf den Weg zu bringen?
Es scheint keinen Unterschied zu machen, wenn eine Tonne auf Eis ruht, es bleibt das gleiche Gewicht. Obwohl ich mit aller Kraft gegen die Seite drücke, bewegt sich der Wagen kein Stück. Ich bin durchnässt und zittere vor Kälte. Kann es kaum glauben, dass dies hier passiert. Das, was ich am meisten gefürchtet hatte. Und jetzt, da ich über den verlassenen Fjord sehe und begreife, wie das hätte enden können, wird mir so schlecht, dass ich auf die Knie falle und mich übergebe.
Wahrscheinlich hat noch kein Mensch zuvor einen so erbärmlichen Anblick abgegeben wie ich in diesem Moment. Vor Stress kotzend im Djúp, der Jeep kurz davor abzustürzen, hinunter ins Meer. Ein paar Minuten später taumele ich aber wieder ins Stadium der Zufriedenheit und wische mir die Tränen aus den Augen. Alles in allembestehen noch Aussichten, dass ich sterben werde. Ich kann zwischen drei Varianten wählen. A) Draußen erfrieren. B) Versuchen, mich im Auto aufzuwärmen, und heut Nacht mit ihm ins Meer hinunterstürzen. C) Versuchen, das Auto im Durchdrehen der Räder auf den Weg zu schwenken, doch dabei mit dem Reifen vom Absatz und samt Auto ins Meer rutschen.
»Wir schaffen das, Lappi«, sage ich entschlossen und spreche das Vaterunser. Setze mich vorsichtig in den Wagen und starte den Motor. Schalte in den ersten Gang und gebe Gas. Löse dann die Handbremse in dem Moment, wo ich die Kupplung kommen lasse. Die Räder drehen sich einige Zentimeter vorwärts, dann gleitet der Wagen jedoch wieder rückwärts und stoppt auf derselben Stelle. Ich wage mich nicht hinaus, um nachzusehen, wie viel vom Absatz geblieben ist, bleibe aber plötzlich mit den Augen am Allradhebel hängen. Einen Versuch ist es wert. Ich schalte in den niedrigsten Gang, trete das Gas bis zum Anschlag und lasse die Kupplung los. Es ist, als ob der Wagen übernimmt, und er macht einen Satz von beinah einem halben Meter nach vorn. Ich schaffe es, in den Rückwärtsgang zu schalten, bevor er beginnt, rückwärts zu rutschen, ziehe ihn auf die Fahrbahn und steuere ihn das gesamte Gefälle rückwärts hinunter bis auf die flache Strecke.
Ich bin so zufrieden mit mir, dass mir in den Sinn kommt, einen zweiten Versuch zu wagen, den Berg hochzukommen. Entscheide mich dann aber doch für die Umkehr und den Versuch, einen Bauernhof zu finden, um dort um Rat zu fragen.
»Sie hat schon immer Probleme gemacht, diese Steigung.« Der Bauer auf dem Hof Ögur steht mit misstrauischer Miene vor mir und scheint darauf zu warten, dass ich etwas sage. Aber ich weiß nicht so recht, was. Weiß nicht, warum ich zu diesem Hof gefahren bin. Möglicherweise nur, um in das Gesicht eines anderen Menschen zu sehen. Um mich davon zu überzeugen, dass ich am Leben bin und dass es überhaupt Leben gibt hier im Djúp. Ich weiß, dass er mich für einen völligen Schwachkopf hält, allein durch das Djúp zu fahren bei dieserGlätte, ohne Spikes, und zu glauben, dass ich überall durchkäme in dieser Gegend, mit der er sich zweifellos schon jahrzehntelang herumgeschlagen hat.
Nach verlegenem Räuspern und unangenehm langem Schweigen sage ich, um einfach irgendwas zu sagen: »Also … ich wollte fragen, ob ich hereinkommen dürfte und telefonieren?« Wahrscheinlich könnte ich auch aus dem Auto telefonieren, bin aber noch so geschockt, dass ich mich danach sehne, in das Haus einzutreten. Um unter Leuten zu sein für einen kleinen Moment.
»Natürlich, komm rein«, sagt seine Frau in dem Moment, wo sie mit einem Geschirrtuch in den Händen in der Türöffnung erscheint. Sie führt mich in einen kleinen Raum, der von der Küche abgeht und eine Art Büro ist. Auf dem alten Schreibtisch steht ein Telefon und liegen
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