Liebe Isländer: Roman (German Edition)
fahre, gerate ich über die Böschung und kippe womöglich den Wagen um. Die Reifen drehen weiter durch, das Auto tanzt auf der Straße und bleibt stehen. Okay, jetzt die Sekunde. Ich steige auf die Kupplung und nehme den Gang raus, allerdings so gestresst, dass ich den Rückwärtsgang nicht finde. Und da ist sie auch schon vorbei. Das Auto beginnt, ausgekuppelt, rückwärts zu rutschen. Ich gerate in Panik und tue das, was man auf keinen Fall tun soll, ich steige auf die Bremse. Der Jeep dreht sich ein Stück und rutscht rüber zur rechten Straßenseite. Im Rückspiegel sehe ich uns direkt auf die Kante zusteuern und auf diese dreißig, vierzig Meter abwärts zum Meer.
Du klammerst dich ans Steuer und starrst in den Rückspiegel. Die rechte Straßenkante verschwindet unterm Auto. Du schaust den steilen Abhang hinunter in die aufgewühlte See. Dieses Auto hat eine Aluminiumkarosse, und obwohl es zweifellos von Vorteil ist, dass sie nicht rostet, wie der Schwager verdeutlichte, als er den Wagen verkaufte, wird sie sehr bald entweder zusammengedrückt werden oder auseinandergerissen. Gleich beendest du dieses Leben. Morgen wird nichts weiter von dir übrig sein als eine Überschrift im
Moggi
über einem Bild von dem Autowrack. Ob dort wohl steht: »Ein Mann ist im Ísafjarðardjúp umgekommen« oder »Ein Junge«? Vielleicht auch nur: »Idiot starb im Djúp auf Reifen ohne Spikes.« Du hättest die Reifen vielleicht doch mit Spikes ausrüsten lassen sollen.
Seltsam, seine letzte Minute ganz genau jetzt zu leben. In Regen und Sturm im Ísafjarðardjúp. Bei all den möglichen Orten. Du bemerkst, dass die Dämmerung einsetzt. Symbolisch. Dass dein Tag sich dem Abend zuneigt. Der letzten Minute? Den letzten Sekunden. Du hast nicht mal Zeit für ein Vaterunser. Was möchtest du als Letztes denken? Etwas Schönes. Ans Himmelreich? Nein, du bist ja gerade auf dem Weg dorthin. An Island? Deine Eltern? Du findest es fast nochtrauriger als gerade zu sterben, dass dir ein Bild von Kaffibarinn erscheint. Du siehst den Türsteher vor dir, wie er die Tür öffnet und die Schlange entlangschaut. Als du diesen Gedanken abschüttelst, hörst du das Ratschen in einem Geldautomaten, der die Kreditkarte ablehnt. Dann siehst du das grüne Fußballtrikot des Breiðablik-Teams. Was ist los? Kaffibarinn, die Karte abgelehnt und das Fußballtrikot. Sollen das deine letzten Gedanken sein? Vielleicht bist du schon halbtot, und sie sind schon da, um dich zu holen. Sind das nicht alles symbolische Schlussbilder? Breiðablik, dein Verein, ständig auf dem Abstieg. Deine Karte wird abgelehnt. Und ein Bild von Petrus im Mekka eines ständig absteigenden Teams.
Okay, das Auto fährt gerade über den Rand. Wie kannst du das überleben?! Du wirfst dich gegen die Tür und willst hinausspringen, aber der Gurt reißt dich zurück. Du fasst den Entschluss, dich abzustützen, zu versuchen dich festzuhalten, vielleicht hast du Glück. Du verstärkst den Griff um das Steuer, rammst den Fuß auf die Bremse und schließt die Augen. Du hast das Gefühl, das Auto schwebt in der Luft. Begreifst dann endlich, dass es steht.
Ich öffne die Augen. Der Wagen befindet sich zur Hälfte außerhalb des Weges, und ich verstehe nicht, was ihn am Absturz hindert. Ich steige vorsichtig aus. Das rechte Hinterrad ist auf einen kleinen Absatz hinausgerutscht, der aus dem Weg herausragt. Welch ein Glück. Oder etwas ganz anderes. Der Absatz ist ungefähr einen halben Meter breit und hat gerade exakt die ausreichende Größe für den Reifen. Wenn das Auto an einer anderen Stelle des Weges als genau auf diesem halben Meter gerutscht wäre, es wäre ins Meer gestürzt. Welch unglaubliches Glück! Danke, Gott.
Doch ich sitze in der Klemme. Rückwärts ist unmöglich, und die anderen drei Räder ruhen auf Eisbuckeln, so dass es auch nicht vorwärtsgeht. Darüber hinaus scheint der Absatz ziemlich instabil. Er ist nass, sieht bröcklig aus und könnte jederzeit nachgeben. Ebenso könnten die Räder durchdrehen beim Versuch, den Wagen wieder auf dieStraße zu bringen. Mir scheint es auch nicht angebracht, im Auto zu warten. Wenn es weiter regnet, wird das Eis auf der Straße tauen. Was wird dann passieren?
Es dunkelt schnell. Um irgendwo zu beginnen, zünde ich mir eine Zigarette an. Okay, nachdenken. Soll ich die Polizei anrufen? Den Rettungsdienst? Ich will mich aber nicht »retten« lassen. Außerdem könnte es mehrere Stunden dauern, bis sie hier sind, und es könnte
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