Liebe Isländer: Roman (German Edition)
ist alles ganz anders, seit es die Fagranes gibt. Und wenn dann erst mal der Tunnel durch den Hvalfjörður fertig ist.« Sie lächelte und fuhr fort: »Aber trotzdem ist es so, dass der Weg in die Stadt viel kürzer für uns zu sein scheint als der für euch hierher. Nun iss noch etwas mehr.«
Ich legte das Besteck weg. »Nein, ich bin pappsatt.«
Sie überblickte das Essen auf dem Tisch und schien ziemlich zufrieden damit, wie viel sie in mich hineinbekommen hatte. »Na, mein Freund.« Dann sah sie mir fest in die Augen und wurde ein wenig nachdrücklicher. »Es ist doch alles in Ordnung, Huldar, oder?«
Ich musste mich selbst unterm Tisch zwei Mal kneifen, um einigermaßen glaubwürdig antworten zu können: »Dochdoch. Du musst dir keine Sorgen machen um mich.«
Das Isvolk
Das gelbliche Bolungarvík bietet einen besonderen Anblick. Das Hafengelände war das alleransehnlichste, und das Tiefkühlhaus erinnerte an ein Schloss, aber das Meer schien das eigentliche Dorf den Berghang hinaufgespritzt zu haben, von wo es langsam wieder hinunterfloss. Obwohl elfhundert Leute in dem Ort wohnten, waren die einzigen Lebenszeichen ein herumstreunender Hund und zwei Kinder, die auf der vereisten Straße rodelten. Jói hatte gesagt, dass auf den Straßen des Dorfes nie irgendjemand unterwegs wäre: »Das ist schon immer so gewesen. Man trifft dort nie eine Menschenseele.« Doch das hier war unglaublich. Sogar die einzige Ampel des Ortes war ausgeschaltet. Wo waren alle? Nach einer Stunde Rundfahrt durch den Ort, ohne eine einzige Seele gesehen zu haben, machte ich mich wieder davon. Traurig und geistlos.
Hirntot? Hatte Stebbi nicht in diesem Zusammenhang auf Bolungarvík hingewiesen? Ich habe nichts von ihm gehört, seit ich losgefahren bin. Keiner von uns beiden wollte zuerst Kontakt aufnehmen. Ich wusste, dass wir beide wussten, dass wir das wussten. Wenn ich als Erster anriefe, würde ich zu verstehen geben, dass diese Reise eher trostlos war. Ein Anruf von Stebbi hingegen wäre ein Eingeständnis, dass das Leben in der Stadt eintönig war und er mich um die Reise beneidete. Tatsächlich war es ein Gleichstand. Obwohl er wusste, dass es schwerer fallen würde, allein draußen auf dem Land auf einen Anruf zu warten, als umgeben von Freunden in der Bar, konnte ich ihm doch diese erquicklichen Postkarten schicken. Ich richtete mich deshalb darauf ein, mit ihm nicht vor meiner Rückkehr in die Stadt zu sprechen, und dann über alles außer über die Reise. Keiner von unsbeiden würde dem anderen den Gefallen tun wollen, sie zur Sprache zu bringen. Wenn ich das täte, erschiene ich zu eingebildet. Wenn er es täte, würde er gleichzeitig eingestehen, dass ihm etwas dran zu sein schien an meiner Reise. Nichts ist so wertvoll wie eine gute Freundschaft.
Was hatte er gemeint mit dem Hirntod? Wie äußerte er sich? Meinte er einen regelrechten Hirntod, so dass man sich nie wieder erholen würde? Oder mehr so etwas wie Hirntaubheit? Einen vorübergehenden Zustand, der wieder nachlassen würde? Und was zum Teufel glaubte Stebbi überhaupt zu wissen? Trotzdem, ich hatte tatsächlich das Gefühl, eine Hirntaubheit zu spüren. Fühlte mich so furchtbar geistlos. Möglicherweise war ich zu übereilt in die Einsamkeit hineingeprescht. Die, die Berge besteigen, müssen sich monatelang vorbereiten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man sich auch auf eine derartige Einsamkeitstour vorbereiten muss. Im Sommerhaus herumhängen, zuerst ein Wochenende lang, dann eine Woche und so weiter. Nicht einfach Tschüss sagen und dann meinen, zwei Monate lang allein sein zu wollen.
Die Abende in Ísafjörður verbrachte ich im Sjallinn damit, Gullas Essen zu verdauen, doch nichtsdestoweniger auch damit, die Sorgen und die Siege des Isvolkes mitzuverfolgen. Am ersten Abend, als ich den Club betrat, drehten sich mir zwanzig Leute entgegen, alle mit Schirmmützen auf dem Kopf und in weißen T-Shirts mit der Aufschrift: »Das Isvolk«. Zuerst glaubte ich, in eine Versammlung einer Glaubensgemeinschaft geraten zu sein, aber dann zählte ich eins und eins zusammen, als ich das Bier auf den Tischen sah und die Köpfe sich wieder zum Fernseher drehten, der von der Decke hing. Auf einer kleinen Kreidetafel an der Wand wurde das Gericht des Tages angepriesen. »Gebratener KR-aner m. Pommes – 690,– Kr.« Das Isvolk war der Fanclub des hiesigen Basketballteams und nahm seine Aufgabe ernst, vor allem heute Abend gegen das KR-Team aus der
Weitere Kostenlose Bücher