Liebe Isländer: Roman (German Edition)
tun und hatten diesen und jenen Traum. War so ein Dorf wirklich groß genug, wenn man doch Anteil an all diesen kleinen Welten hinter den Küchengardinen haben konnte?
»Aber in Reykjavík gibt es mehr Leute als hier«, sagte ich.
Sie zog die Nase hoch. »Im Fernsehen sind auch genug Leute.«
»Na, das ist ja vielleicht nicht ganz das Gleiche?«
»Ich weiß nicht. Es reicht jedenfalls«, antwortete sie eine Spur genervt.
Innerlich war ich inzwischen auch genervt. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie unerträglich engstirnig fand oder ob sie unerträglich recht hatte. Wie ich hier saß und ihren Kaffee trank, wurde mein Körper doch von einem Wohlgefühl durchströmt, als mir etwas in den Sinn kam, was ich für den schwachen Punkt in ihrer Welt hielt. »Und das Nachtleben? Wie ist das Nachtleben in Flateyri?«, fragte ich hinterlistig lächelnd und wusste, dass ich gerade versuchte, sie dazu zu bringen, mir zu sagen, wie trostlos es auf dem Lande wäre. Oder noch besser, wie gut es wäre, in Reykjavík zu leben, damit ich einen Grund hätte, sofort dorthin zu rasen. Ich war kurz davor, aufzugeben.
Die Frage schien für sie völlig alltäglich zu sein. »Es ist gut. Völlig in Ordnung.« Sie zeigte auf ein gelbes Haus, das nur ein Stück entfernt stand. »Das ist Vagninn, dort ist am meisten los. Aber bevor die Lawine das halbe Dorf verschüttet hat, war hier noch mehr los. Viele sind weggezogen und nur noch wenige junge Leute hier.«
Eine Frau kam herein und bat mit heiserer Stimme um vier rote Schachteln Winston. Ich bedankte mich für den Kaffee und erhob mich. Während ich mich auf dem Rückweg dem Tunnel näherte,dachte ich darüber nach, dass in die Gedankenwelt des Mädchens im Kiosk eine heisere Frau getreten war, die einen Namen hatte und einen Mann, der einen Namen hatte, und vielleicht vier Kinder, die alle einen Namen hatten. Bestimmt hatte der Mann der Frau einen Spitznamen und war ein angesehener Seemann. Vielleicht war die Frau eine der besten Bridge-Spielerinnen des Ortes und darüber hinaus hellsichtig. Möglicherweise hatten sie ihr Haus durch die Lawine verloren. Vielleicht auch nicht. Hinter den Haustüren von Flateyri verbargen sich Welten, und ich hatte gerade mal einen Bruchteil von einem Bruchteil aus der Welt des Mädchens gesehen.
Okay. Du versuchst jetzt, nicht durchzudrehen. Du hältst das Lenkrad fester. Beißt die Zähne zusammen. Atmest dann tief ein und zählst bis zehn. Viele würden sich selbst vergessen in so einer Situation. Besonders wenn sie an Klaustrophobie leiden, doch du bist fest entschlossen, die Ruhe zu bewahren. Fest entschlossen. Obwohl dir übel wird, es in den Ohren rauscht, dir der Schweiß ausgebrochen ist und du einen Kloß im Hals hast, bist du fest entschlossen, nicht durchzudrehen. Vielen würde es bestimmt so gehen. Vielen würde es zu viel sein.
Du bist eingeschlossen im Tunnel nach Ísafjörður. Auf dem Rückweg von Flateyri kommend, bist du vorhin in die fast zehn Kilometer lange Röhre hineingefahren und hindurchgebraust, doch nun stehst du auf der anderen Seite vor verschlossenem Tor. Du steckst unter dem Berg fest und musst einsehen, dass auch die frisch mit Spikes versehenen Reifen dir nicht heraushelfen können. Aisländ hat dich endlich verschluckt. Von der Decke hängen dumpfe, gelbe Lampen wie Zapfen herab, und Wasser sickert aus den Wänden.
War der Tunnel wegen bevorstehender Gefahr geschlossen worden? Wird er abends immer geschlossen? Als du das blaugrüne Licht an deiner Uhr einschaltest, siehst du, dass es gerade kurz nach sechs ist. Zum Glück hält diese Tauchuhr zweihundert Meter Tiefe aus. Allerdings weißt du nicht, ob du es aushältst, hier bis morgen früh festzustecken. Du zitterst? Ach, du armer Kerl. Hast du nun genug?
Gewiss warst du in der letzten Zeit etwas matt und, so wie es genannt wird, »ein bisschen shaky«, aber du wirst nicht den Verstand verlieren. Gewiss bist du müde. Und ein wenig altmodisch. Und natürlich ist alles ein wenig anstrengend gewesen. Und nun bist du kurz davor, aufzugeben. Du bist kurz davor, aufzugeben, und sammelst gerade Gründe, um umzukehren. Um die Reise abzubrechen. Genauso wie damals, als du das Auto gekauft hast. Genauso wie so oft zuvor. Weil du im tiefsten Innern Angst hast, dass du es nicht schaffst, den Ring bis zu Ende zu fahren, und es für besser hältst, alles abzublasen, bevor das herauskommt. Den Ring in Etappen fahren?
Obwohl du dir nun endlich eingestanden hast, dass du
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