Liebe Isländer: Roman (German Edition)
Hauptstadt.
Ich setzte mich an einen Tisch in ausreichender Entfernung undbeobachtete die Gruppe, wie sie sich in das Spiel hineinsteigerte. Die Frauen steuerten die Stimmung und sorgten dafür, dass alle mitmachten. Dass sie aufstünden, wenn eine Welle durch den Fanclub gehen sollte. Niemand ausgeschlossen war, wenn das Lokalteam punktete und alle abklatschen sollten. Alle sollten gleich viele Umarmungen bekommen. Die Tagesordnung schien zu besagen, dass mindestens genauso viel Stimmung herrschen sollte wie bei den 2000 Zuschauern in Laugardalshöllin, dem Hallenstadion in Reykjavík, wo das Turnier stattfand. Jede einzelne Person jubelte für hundert und noch viel mehr. Und alle heiklen Spielsituationen wurden bis zum Äußersten ausgenutzt. Dann sprühten halb durchgekaute KR-aner durch den Saal, und es sah aus, als ob die Gruppe einen plötzlichen Ausbruch von Eigenallergie erlitt. Trotz der Aufregung und des Jubels schienen die Männer etwas unter Druck und behielten die Frauen stets im Auge, um bereit zu sein. Vielleicht brachten sie sich auch so sehr ein, damit die anderen dachten: »Dem geht das so nah, dass er selbst mitspielen sollte. Er ist ja schon einer vom Team.« Und versuchten auf diese Weise, sich direkt ins Team hineinzuversetzen.
An diesem Abend siegte das Isvolk, und »die Post ging ordentlich ab«, wie es vom Freudentaumel nach solchen Spielen heißt. »Wir sind die Allerbesten hier in Ísafjörður!«, rief eine der Frauen und trieb die Gruppe an, den DJ des Clubs in Stimmung zu klatschen. »Musik, Musik, Musik …«
Zwei Abende später ging ich wieder hin. Das Isvolk hatte verloren. Da wurde auch die Tragödie bis zum Äußersten ausgelebt. Die Gruppe saß gebeugt um einen großen Tisch und konzentrierte sich aufs Sterben, so dass ich gleich wieder kehrtmachte. Während ich durch den Ort ging, überlegte ich immer noch, wozu ich das alles tat. Konnte ich nicht genauso in den Pubs auf dem Eiðistorg-Platz in Reykjavík sitzen und KR-aner beobachten, wie sie Isvolk ausspuckten? Waren die Menschen nicht überall gleich? Waren die Dörfer auf dem Land nicht alle gleich? Ich hatte endlich das Gefühl, zu verstehen, warum die Freunde den Kopf schüttelten, als ich ihnen von der Idee zu der Reise erzählte.Warum konnte ich nicht ein bisschen realistischer sein und damit aufhören, alles in diesem romantischen Licht zu betrachten? Ich fand mich altmodisch und weichlich. Die eigene Nation zu treffen, was soll das? Okay, Þórbergur Þórðarson ist durch das halbe Land gewandert, und Halldór Laxness ist in den hintersten Winkeln umhergezogen. Dann kehrte er verstört in die Stadt zurück und rief: »Leute, putzt euch die Zähne!« Das war vor Jahrzehnten – als es kein Fernsehen gab, kein Telefon, kein Internet. Und ich bin kein Þórbergur Laxness. Ich mühte mich ab, das Land und die Nation ins Herz zu schließen. Doch wozu? Warum konnte ich nicht einfach auf mich selbst vertrauen? Ich sein? Der ich so klasse bin. Ich war bloß nicht der Typ, der von der Schönheit der Berge völlig begeistert war. Ich mochte es lieber, in Kaffibarinn zu sitzen, Bier zu trinken, mich über Kinofilme zu unterhalten und gute Musik zu hören. Und hätte sich Þórbergur Laxness im Hier und Heute nicht auch eher den Hintern beim Tanzen in den Discos von London aufgerissen, als durchs Land zu zockeln? Die Zeiten hatten sich geändert, und ich schaute sicherlich in eine völlig falsche Richtung, um zu entdecken und zu verstehen.
Auf dem Heimweg traf ich ein junges Mädchen. Es hatte die Arme um den Körper geschlungen und schien zu frieren. Krumm und gebeugt. Das Mädchen war komplett von einer schläfrigen Langeweile umgeben, und ihre Augen spiegelten zwei desinteressierte »Achs« wider. Sie zerging förmlich unter dem Schicksal, zu existieren. Es war ja auch alles irgendwie miserabel und so schrecklich bescheuert. Wir waren völlig identisch.
Den letzten Tag in den Westfjorden nutzte ich, um mir Flateyri anzusehen. Ich dachte mir, dass ich eine Runde durch einen Ort fahren würde, der so wie all die anderen Orte wäre, durch die ich eine Runde gefahren war, und dann würde ich einen Kaffee im Straßenkiosk trinken. Allerdings hatte ich auch begonnen mit dem Gedanken zu spielen, nach Reykjavík zurückzufahren, und vielleicht wäre es gut, Flateyri zu besuchen, dann hätte ich jedenfalls die Westfjorde gesehen.Obwohl ich eventuell in die Stadt zurückfahren würde, war damit nicht gesagt, dass ich nicht
Weitere Kostenlose Bücher