Liebe Isländer: Roman (German Edition)
auch nur eine von vielen Kaffibar-Ratten bist, die das Tageslicht fürchten, ist das kein Grund, umzukehren. In deiner Wirklichkeit hast du nichts zu verlieren. Wenn du den Ring nicht in diesem ’81er Lappländer fahren kannst, ohne zu sterben, wirst du auch nur wieder in die Bar kriechen und dort genauso verrecken. Der einzig mögliche Weg, um weiter zu leben, führt nach Norden, Osten, Süden, an Hveragerði vorbei und von dort aus wieder in die Stadt. Wenn du hier wieder rauskommst, wirst du auf jeden Fall weiterfahren und auch den nächsten Berg überwinden, an Landspitzen vorbeikommen und an Geröllhängen. Die Frage ist, ob du dich selbst überwinden kannst.
Als du Gulla fragtest, ob sie die Bergketten rings um Ísafjörður nicht erdrückend fände, antwortete sie: »Es fehlt nur der Deckel.« Nicht mehr.
Dir fällt es schwer zu atmen. Die wollenen Vaterländer kleben dir am schweißnassen Körper, und an der Frontscheibe sammelt sich Kondenswasser. Du kommst auf den Gedanken, zu versuchen, einfach durch dieses massive Tor hindurchzubrechen, doch dann fällt dir ein, dass du ein Notruftelefon auf der Fahrt durch den Tunnel gesehen hast. Dir gefällt der Gedanke allerdings überhaupt nicht, das Auto zu verlassen. Du hast Angst, ohnmächtig zu werden, bevor du den Apparat erreichst. »Wenn irgend möglich, sollte in Notfallsituationen vermieden werden, das Fahrzeug zu verlassen«, stand in »Per Jeep überdie Berge«. Trotzdem steigst du aus und machst dich auf den Weg durch die dunkle Röhre. Du konzentrierst dich darauf, ruhig zu atmen, und nach kurzer Überlegung stellst du fest, dass es noch kein Buch gibt mit dem Titel »Mit dem Jeep durch die Berge«.
Als du am Notruftelefon ankommst, hörst du ein lautes Maschinengeräusch. Du drehst dich um, und der Kloß im Hals schmilzt, als du das Tor aufgehen siehst. Ein blauer PKW kommt in den Tunnel gefahren und stoppt genau vor dir. Ein Mann um die fünfzig schiebt den Kopf aus dem Seitenfenster und fragt: »Was ist, gibt es ein Problem?«
Jetzt wird es peinlich. »Ach, ich konnt nicht rausfahren. Es war geschlossen.«
Der Mann lächelt amüsiert: »War es nicht nur auf Rot?«
Es wird also noch peinlicher. »Rot?«
»Ja, stand sie nicht nur auf Rot?«, wiederholt er und zeigt auf die Ampel.
Alles ist schön
Nun, da ich den spiegelglatten Hrútafjörður entlangfahre, ist alles schön. Es ist windstill und kaum eine Wolke am Himmel. Die Sonne vergoldet die Straße, die Grashalme am Rand der Piste sind mit Raureif überzogen und die Wasserläufe Bänder aus Eis. Steine ragen aus gefrorenen Teichen, und die Farben leuchten gelb und grün und rot und alles dazwischen. Hinter jeder Anhöhe wartete, eine neue Szene des Abenteuers Island, durch das sich das schnurrende Auto hindurchkrallt auf seinen neuen Spikes. Welch ein Tag! Die Sonne lässt jeden Hügel, jede Wiese, jeden Halm erstrahlen. Alles ist schön.
Während der Fahrt mit der Fagranes hatte sich der grauschimmlige Morgen in einen funkelnagelneuen, strahlend schönen Tag verwandelt. Während ich an Deck stand, mit der kalten Brise im Gesicht, und über das rosafarbene Meer blickte, söhnte ich mich wieder etwas aus mit dem Djúp. In den Fjorden reckten die Berge ihre schneeweißen Gipfel ins Blau des Himmels, und die Täler hier und dort waren mit goldenem Sonnenschein gefüllt. Vorwitzige Seehunde lugten aus dem Wasser, und Eissturmvögel glitten neben der schaukelnden Fähre einher. Ich war ein Isländer! Und diese überwältigende Weite willkommen. Nach und nach wurde Ísafjörður zu einer winzigen Lücke in diesem gähnenden Maul. Der Ort würde so für einen Augenblick unbehelligt im Leben des Landes dastehen dürfen, und dann würde er wieder zuschneien. Eine winzige Spur wehmütig streifte ich soeben die Ewigkeit.
Und die Steingrímsfjarðarheiði? Sie zu überqueren war, wie es manchmal heißt, »die einfachste Sache der Welt«. Oben angekommen, aß ich die Brote, die Gulla mir als Proviant mitgegeben hatte,ließ den Blick über das Djúp schweifen und warf den Westfjorden einen Kuss zum Abschied zu. Als ich wieder unten war, schloss sich ein gewundener Weg an, der an Hólmavík vorbeiführte, über den spiegelglatten Ennisháls, in den eisgeblümten Hrútafjörður hinein, und jetzt schwenke ich wieder auf die Nationalstraße Nummer Eins, die Ringstraße, ein.
Ich mache einen Stopp an der Raststätte Staðarskáli. Esse einen Hamburger und Pommes, studiere die Landkarte und versuche
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