Liebe Isländer: Roman (German Edition)
einfach nur hellwach?
Die Wohnsiedlung von Blönduós sieht eher langweilig aus und erinnert an einen Vorort. Die neue Kirche ist ein weiteres Mahnmal für einen schlechten Tag im Leben eines Architekten. Was ich am bemerkenswertesten finde, sind die roten chinesischen Schriftzeichen an der Bäckerei Krútt, so komisch hilflos im Sturm, in Nordisland.
Ich trinke meinen Kaffee, rauche die erste Zigarette des Tages und beobachte die Mädchen. Sie scheinen sich in Björks Kleiderschrank geschlichen und durch die
Gesehen und gehört
hindurchgekichert zu haben, das verbindende Organ all jener Leute, die alles andere interessanter finden als das eigene Leben. Zwei der Mädchen sind Zwillinge, und die Zahnspange der einen der einzig sichtbare Unterschied zwischen ihnen. Muss das nicht frustrierend sein, dass jemand existiert, der dir in allem gleicht? Ein zweites Exemplar von dir? Verliert man da nicht selbst an einer gewissen Gewichtigkeit, wenn man einer von zweien ist? »Ach so, Huldar ist rausgegangen. Okay, egal. Ist Huldar 2 vielleicht da?« Schrecklich.
In Ísafjörður hatte ich mich wie das junge Mädchen gefühlt, dem ich an einem Abend auf der Straße begegnet war, doch jetzt, da ich die Mädchen beobachte, wie sie durch die Zeitung blättern, empfinde ich einen großen Abstand zwischen uns. Das sind Kinder. Ich, der aufgehört hat aufzugeben, aber nicht. So wie die Raufbolde in der Stadt. Ab jetzt wird jede Idee und jedes Projekt zu Ende geführt. Das hatte ich beschlossen, als ich dem Tunnel nach Ísafjörður endlich wieder entkommen war.
Ich bezahle den Kaffee und höre eines der Mädchen sagen: »Ichhoffe, der Neue ist süß, der am Montag in der Schule beginnt. Ich hab von den Jungs hier die Nase voll.«
Da ist was dran.
Auf dem Vatnsskarð
Oben auf dem Vatnsskarð zu stehen und über den in Sonne gebadeten Skagafjörður zu blicken ruft nostalgische Erinnerungen wach. Die Bergflanke von Blönduhlíð ist rosa, Hegranes bläulich, die Wiesen in der Mitte des Fjordes hingegen sind wundersam violett. Die Flussarme der Héraðsvötn braun. Alle Farben sind einen Hauch verschleiert, wie auf einem alten Foto. Auf dem Hof Héraðsdalur II hier im Skagafjörður bin ich einen ganzen Sommer lang durch knietiefen Nerzmist gewatet und wurde zum Mann. Glaubte ich jedenfalls.
Es war nicht so, dass ich etwas angestellt hatte und meine Eltern dann gesagt hätten: »So, nun musst du aufs Land!« Oh nein. Ich war ein pummeliges Kind, hatte eine Zigarettenphobie und nie etwas Schlimmeres angestellt, als ein paar Bücher mit zwei Tagen Verspätung zur Bibliothek zurückzubringen – mit zitternden Händen. Ich schaltete das Videogerät immer von selbst aus, faltete die Snacktütchen ordentlich zusammen, brachte sie zum Mülleimer und sagte dann: »Ich möchte aufs Land.« Meine Eltern standen damals vor mir und gafften mich an.
Und ich war auch kein Kind, das hysterisch auf einem Traktor rumrasen wollte. Oh nein. Bevor ich aufs Land fuhr, absolvierte ich einen Traktorkurs und erhielt dafür ein Zertifikat. Ich war gut im Schachspiel, sammelte Briefmarken, bekam gute Zensuren und hatte einen Papagei. Ich war der in unserer Klasse, der auf der Weihnachtsfeier das Weihnachtsevangelium las. Adrett gekämmt, kassierte ich eine Anerkennung nach der anderen ein für etwas, woran der Rest der Klasse kein Interesse hatte. Und machte mir zwischendurch Sorgen über einen potentiellen Atomkrieg. Schon damals machte ich mir Gedanken um die Sicherheit.
Ich war ein liebes Kind.
Und ich erinnere mich, erinnere mich nicht. Ich erinnere mich, weinend im Zimmer gesessen zu haben wegen der Ungerechtigkeit auf dem Lande, als der japanische Austauschschüler auf dem Hof das Heu wenden durfte, und nicht ich. Und ich erinnere mich, damals das Gefühl gehabt zu haben, so wie auch später manchmal wieder, dass ich mich vielleicht in etwas hineinmanövriert hatte, was ich nicht ganz bewältigen konnte. Und ich erinnere mich, wie es Tante Alma in den Wahnsinn trieb, dass der japanische Austauschschüler immer so lange badete. »Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Volk gelb ist. Es hat sich bis zur Fettschicht abgeschrubbt.« Doch Alma konnte nicht genug Japanisch, um zu erklären, dass nicht unendlich viel warmes Wasser im Haus vorhanden sei. Und der Japaner nicht genug Englisch, um es zu verstehen. Ich erinnere mich daran, dass er sie bei Laune hielt, indem er ihr Karate beibrachte.
Erinnere mich, erinnere mich nicht. Ich war drei
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