Liebe Isländer: Roman (German Edition)
Héraðsdalur II noch Schafe, Kälber, Pferde und Hühner. Es war unwahrscheinlich beruhigend, in dem dumpfen Licht der Ställe zu stehen, ein bisschen zur Hand zu gehen und im Frost den Atem auszustoßen, den betäubenden Geruch des Dungs in der Nase. So direkt in die Nahrungskette eingebunden, Heu-Schaf-Mensch, bekam jeder Handgriff ein wenig mehr Bedeutung und wurde irgendwie schöpfend. Ich hätte auch stundenlang den Schafen beim Fressen zusehen können. Dieser Klang. Wie kann man Heu zermalmen?
Gleich am zweiten Abend wurde es zu einer meiner Aufgaben, diejenigen Schafe, die hinauf in die Krippe sprangen, wieder hinunter in den Verschlag zu treiben. Während ich das erledigte, wurde ich ungeheuer wichtig, aber zugleich auch väterlich, und stupste die Armen eher, als sie beherzt voranzustoßen, so wie Alma es mir gezeigt hatte.Sie sagte, dass sie die Schafe, die ins Heu sprangen, im Herbst »auf die Schlachtbank« setzen würde, weil die anderen es ihnen nachmachen würden. Zuerst fand ich es grausam von Alma, ein Todesurteil über sie zu fällen, nur aus diesem einen Grund. Ich dachte bei mir, ob es nicht möglich wäre, ihnen das einfach abzugewöhnen. Konnte mich dafür dann selbst nicht ausstehen und sah der Wahrheit ins Gesicht, die vor mir stand als Keulen, Rücken und Koteletts in isländischen Wollpullovern.
Trotzdem fand ich immer etwas faul an den Bauern, die ihren Schafen Namen geben und über sie sprechen wie von Kindern und sie dann eiskalt auf eine Ladefläche werfen, um sie ins Bezirkszentrum zur Hinrichtung zu fahren. Zumeist mit zwei Arbeitsleuten hinten auf der Ladefläche, so dass die Schafe nicht zertrampelt werden, um sie kurz darauf dann doch zu töten. In jüngeren Jahren schien mir diese Doppelzüngigkeit der Bauern darauf hinzudeuten, dass sie verdeckte Rohlinge waren. Auf den Reisen übers Land mit meinen Eltern wurde ich so jedes Mal von Wut und Kummer erfüllt, wenn wir an einem Bauernhof vorbeifuhren. Auf jedem von ihnen verbarg sich für mich ein wildbärtiger Tierquäler.
Und vielleicht bleibe ich immer ein Kind, weil ich die Geschichte vom Lämmchen Móa und dem dreizehnjährigen Jungen, der einen Sommer lang Landwirtschaftshilfe auf einem Hof im Osten ist, immer noch nicht verwinden kann. Er machte seine Sache gut und durfte sich im Herbst ein eigenes Lamm aussuchen. Er nannte es Móa und verabschiedete sich von seinem neuen Freund mit Tränen in den Augen am Abend, bevor er heimfuhr. Doch einige Wochen später kam Móa ihm hinterher. In Teilen. Zersägt und verarbeitet in einer Tüte. Auf einem kleinen Zettel, der der Lieferung folgte, stand: »Guten Appetit.« Verständlicherweise war das ein großer Schock für den Jungen, der seitdem in jeder Hinsicht niedergeschlagen war und nie wieder aufs Land fuhr. Und nicht einmal mehr sein Dorf verließ, bis er dazu gezwungen war, weil er Informatik nur in Reykjavík lernen konnte. Es ist viele Jahre her, dass ich diese Geschichte gehört habe, und nochheute überlege ich manchmal, warum, verdammt noch mal, die Leute von dem Hof dem Jungen nicht einfach ein Foto schickten und Móa selbst auffraßen.
An einem Abend, nach dem Heufüttern, musste ein Bulle in seine Box getrieben werden. Ein wilder schwarzer Teufel von mehreren hundert Kilo Gewicht. Alma verfolgte ihn durch den Stall und versuchte ihn an eine bestimmte Stelle zu lotsen. Meine Aufgabe war es, vor einer Box zu stehen, in die er nicht hineindurfte, in die er aber wild entschlossen hineinstrebte. Und ich fühlte mich nicht mehr ganz so bedeutend, als er wütend auf mich zuraste. Eher so, als ob die Wichtigkeit meiner Rolle exakt gegen null tendierte. Aber gerade als ich ausweichen wollte, schrie Alma in von der Jagd wahnsinniger Stimmung: »Bleib stehen! Er dreht um!« Ich wusste nicht, ob ich größere Angst vor Alma hatte oder vor diesem schnaufenden Monster, das im Begriff war, mich niederzustampfen, und rührte mich nicht. So lange, bis unsere Nasen sich fast berührten. Da sprang ich zur Seite, und der Bulle stürmte in die Box.
Alma rastete aus und schrie mich an: »Was habe ich dir gesagt! Bleib stehen!«
»Bleib stehen!«, schrie ich noch wilder, der Länge nach auf dem Boden liegend. »Bleib stehen! Bist du verrückt! Das Vieh hätte mich um ein Haar zertrampelt!«
Alma wollte zweifellos irgendetwas zurückschreien über die Feigheit von Stadtkindern, sackte jedoch zusammen und kippte vor Lachen nach hinten, als ich wieder aufstand – einbalsamiert mit
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