Liebe Isländer: Roman (German Edition)
grinst nur und sieht zu mir.
Ich habe mir Húsavík nun angesehen und beschließe daher, zum Mývatn zu fahren, bevor das Wetter schlechter wird. Es ist besser, bei schlechtem Wetter an einem neuen Ort festzusitzen. Als ich meinen Kram ins Auto schaffe, hat der Wind schon ordentlich aufgefrischt. Hemmi sagt: »Mach dir keine Sorgen. Sobald du aus dem Ort bist, hast du die ganze Zeit Rückenwind.«
Ich bin zwanzig Minuten den Kísilvegur gefahren, als das Wetter sich erheblich verschlechtert. Schneefall wird zu Schneegestöber, und Schneetreiben verwandelt sich in Schneesturm. Der Abstand zwischen den Laternen der Höfe vergrößert sich, und dann setzt massive Dunkelheit ein. Doch ich bin ruhig. Es sind nur knapp fünfzig Kilometer, und ich sehe am Kilometerzähler, dass die Hälfte schon geschafft ist. Ich habe mittlerweile doch ganz anderes durchgestanden.
Zehn Minuten später wird der Asphalt zu Geröll. Die Telefone fallen aus. Die Musik im Radio wird zu einem Rauschen, und Dampf von heißen Quellen vermischt sich mit dem Schneesturm, so dass die Sicht an der Frontscheibe endet. In den Sekundenbruchteilen, in denen die Dämpfe um das Auto herum weit genug aufreißen, schimmern vereinzelt gelbe Leitpfosten auf. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, spüre jedoch, dass der Weg bergiger wird, und verlangsame die Fahrtnoch einmal erheblich. Das ist fast genauso wie bei Nacht an Bord eines Flugzeuges zu sein und in die schwarze Dunkelheit hinauszusehen. Hier sind es nur Dämpfe von Quellen und Schneesturm an Stelle von Wolken und gelbe Leitpfosten statt der Blinklichter an der Tragfläche. Und ich bin ruhig.
Einige Minuten später bemerke ich, dass das Auto an Kraft verliert, und mir kommt der Traum wieder in den Sinn. Dementsprechend sollte das Auto am Mývatn erneut liegen bleiben. Da ist etwas Neues, denn er stottert nicht, sondern ist viel ohnmächtiger. Kriecht gerade eben noch so mit gefühlter Schrittgeschwindigkeit vorwärts, auch wenn ich das Gaspedal ganz durchtrete. Nun ist es fast genauso wie des Nachts in einem abstürzenden Flugzeug zu sitzen, aber ich weiß, dass ich überleben werde. Die Frage ist, ob wir es bis zum Mývatn schaffen oder nicht. Jetzt wird der Schneesturmdampf fortgeblasen. Okay, ich kann sehen, ich bin auf der Straße, und am Straßenrand steht ein Geist. Ich bin …
Ein Geist?
Ich bin schon einige Meter vorbei, als ich erfasse, was dort zu sehen war. In meiner Gefühlswallung ramme ich den Fuß in die Bremse, frage mich aber zugleich, warum ich das um Himmels willen tue, und fahre sofort wieder los. Steige dann erneut auf die Bremse. War das wirklich ein Geist? Was, wenn jemand auf der Strecke liegen geblieben ist? Konnte das ein Mensch gewesen sein? Nein, bei diesem Wetter steht niemand draußen mit einem Hut auf dem Kopf und grinst. Die Quelldämpfe? Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie für einen Augenblick die Gestalt eines Menschen gebildet haben. Es ist allerdings ausgeschlossen, dass sie einen ausgestreckten Arm mit Fingern und einem zerknitterten Anzug vorgaukeln können. Quelldämpfe haben auch keine Augen. Zitternd fahre ich wieder los. Je deutlicher mir wird, was ich gesehen habe, desto mehr wächst meine Angst, und es ist kaum auszuhalten, dass das Auto nicht auf Touren kommt. Ich habe das Gefühl, der Geist ist mir auf den Fersen. Erscheint über kurz oder lang an meinem Seitenfenster. Oder …? Ich wage nicht, in den Rückspiegel zusehen, sondern greife mir die Taschenlampe und leuchte den hinteren Teil des Autos aus, ohne mich umzusehen.
So komme ich bis zum Mývatn. Umfasse das Steuer mit der rechten Hand und mit der linken die Taschenlampe, die auf meiner Schulter ruht. Auch wenn mir diese Maßnahmen schwachsinnig erscheinen, beruhigen sie mich, da es mir so gelingt, mich selbst davon zu überzeugen, dass das Licht den Geist entweder abschreckt oder verhindert, dass er hereinschlüpft. Als die Siedlung am See Mývatn aus der Dunkelheit auftaucht, habe ich mich an diese Fahrweise gewöhnt. Sie ist einfach Teil meiner Fahrt durch eine isländische Winternacht. Genauso wie man bei Schnee an den Reifen Schneeketten anbringt oder bei Glätte in den Allradantrieb wechselt, sollte man eine Taschenlampe einschalten und das Auto hinter sich ausleuchten, wenn man einem Geist begegnet.
Es ist mitten in der Nacht, und die Siedlung am Mývatn ist ungefähr genauso interessant anzuschauen wie eine menschenleere Sommerhaussiedlung. An den Haustüren und unter den Fenstern
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