Liebe Isländer: Roman (German Edition)
sein, und wurde noch größer. Obwohl ich in Unwettern durch Island gefahren war, in Eiseskälte geschlafen hatte und mich im Djúp fast umgebracht hätte, war das überhaupt nichts Außerordentliches vor diesem – Mann. Das war seine tägliche Arbeit, er stand jeden Morgen auf und fuhr wie ein Wahnsinniger in die Berge hinauf.
»Bist du das mit dem Lappländer da draußen?«, fragte der Reiseführer.
»Ja«, antwortete ich und bedauerte mich ein wenig.
»Und, macht er sich gut?«
»Ja, er ist tapfer, der Arme«, antwortete ich so unbekümmert wie möglich.
»Aber sie schlucken ganz schön was weg, diese Wagen, oder?«
»Ja. Er braucht seine Ration«, gab ich zur Antwort und fügte dann, um etwas mehr von mir in das Gespräch einfließen zu lassen, noch hinzu: »Bei starkem Wind kann er etwas gefährlich werden.«
Der Reiseführer grinste: »Tatsächlich, soso.«
Ich fühlte mich wie ein totaler Trottel nach diesem Geständnis und ihn so widerlich souverän, dass ich mich schnell verabschiedete. Als ich mich entfernte und darum kämpfte, mich gegen all meine Komplexe aufrecht zu halten, rief er mir hinterher: »Wir sehen uns, du Tapferer!«
Ich zögerte einen Moment, machte er sich lustig über mich? Tapferer? Blickte dann lächelnd zurück und rief: »Machen wir, Alter!«
Ich gähne gerade und schaue immer noch über Húsavík. Ein Lada Sport fährt in Richtung Kai und hält bei den Kuttern, die in einer Reihe zwischen Haufen aus Fischnetzen stehen. Zwei Männer steigen aus, öffnen den Kofferraum, holen Farbtöpfe heraus und gehen zu einem Schiff namens
Árni so-und-so
. Im Hafen wartet die
Moby Dick
, und auf einmal erinnere ich mich, erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich an die Seefahrtnachrichten. Ich erinnere mich an Mama, am Küchentisch sitzend und demselben kleinen Radio lauschend, das von den Luftangriffen auf Libyen berichtete. Und ich erinnere mich an den Stress, den es mit sich brachte, wenn wir meine Oma, die alsStewardess auf den Handelsschiffen arbeitete, mit all den geschmuggelten Sachen abholten. Ich erinnere mich, wie viel Angst ich vor den Zollbeamten hatte und wie unhöflich Oma immer zu ihnen war. Während sie auf Wodkaflaschen, Zigarettenstangen und Süßigkeiten saßen, machte sie ihre Witze und lachte immer noch laut, wenn sie zu Hause ankam. Ich wünschte, ich könnte mich an mehr erinnern, aber das Nächste ist Papa, der am Küchentisch sitzt, ein gebrochener Mann. In dem kleinen Radio wird berichtet, dass John Lennon ermordet wurde. Ich erinnere mich, dass er sich einen Drink mixte, ein Bad nahm und mir ins Wohnzimmer zurief, welchen Lennon-Song ich als Nächstes spielen sollte. Etwas später sitzen wir beide, Mama und ich, am Küchentisch und hören die Seefahrtnachrichten. Oma wird aus dem Ausland zurückerwartet, mit einer Lennon-LP. Die eine John-und-Yoko-Platte wurde, so dass ich nur jedes zweite Lied hören mochte, weil dazwischen immer Yoko Ono jaulte. Und ich erinnere mich, erinnere mich nicht. Viele Jahre danach sitze ich allein am Küchentisch, und das kleine Radio berichtet vom Selbstmord Kurt Cobains. Und ich erinnere mich, dass ich kein Bad nahm, sondern mit Stebbi einen Saufen ging. Völlig erledigt brachten wir die Nacht zu Ende, indem wir im Zimmer drinnen vorübergehend Selbstmord begingen mit einer von Papa gestohlenen Flasche. Alles geht fort, alles geht weiter.
Und ich erinnere mich wieder an die Kassiererin hier in Húsavík. Es war ungerecht ihr gegenüber. Jetzt bereue ich nicht nur mein Verhalten, sondern glaube auch, dass es später auf der Reise auf mich zurückfallen wird. Aus derartigen Beweggründen habe ich noch nie eine Zigarettenkippe aus dem Autofenster geworfen. Finde, mir wird gerade vom Land eine Chance gegeben, und wenn ich ihm nicht Respekt entgegenbringe, wird es ein Unwetter geben oder irgendetwas noch viel Schlimmeres. Die Verkäuferinnen waren die ganze Reise über nett und hilfsbereit zu mir, würden es von nun an aber vielleicht nicht mehr sein. Ich bin es ihnen allesamt schuldig, dass ich hingehe und um Entschuldigung bitte. Und dann ist da noch das andere. Bin ich Manns genug, sie um Entschuldigung zu bitten?
Kurze Zeit später stehe ich an der Türschwelle zum Kiosk. Innen lehnt sich die Verkäuferin über den Tresen und unterhält sich mit einem Mann in orangefarbenem Max-Overall. Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt hineinzugehen, ja, ich kann mir kaum vorstellen, den Kiosk überhaupt zu betreten. Höchstwahrscheinlich
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