Liebe ist der größte Schatz
meine nächtliche Wanderung. Seit mein Vater tot ist, schlafe ich nicht mehr gut, und so kommt es vor, dass ich mitten in der Nacht umherirre …“
„Als Junge verkleidet und wie ein Schatten durch das Haus schleichend?“
Abgelenkt von seinen direkten Fragen, war ihr entgangen, dass er ihr Handgelenk ergriffen hatte. Vergeblich versuchte sie sich loszumachen.
„Sind Sie eine Diebin?“, erkundigte er sich ruhig, während er mit dem Daumen über die empfindliche Haut an ihrem Puls strich und sich so weit zu ihr vorbeugte, dass sie seinen warmen Atem an ihrer Kehle spüren konnte.
„Nein“, brachte sie mühsam hervor, war sie doch nahe daran, schwach zu werden.
„Eine Spionin dann? Wer hat Sie zu mir geschickt?“ Seine Finger umschlossen ihr Handgelenk fester. Er tat ihr nicht weh, aber sie spürte, dass er allmählich die Geduld verlor.
„Ich bin keine Spionin“, brachte sie tapfer hervor.
„Ich glaube Ihnen nicht, wenn Sie indes in Schwierigkeiten stecken, könnte ich Ihnen helfen.“
Ein solches Angebot war das Letzte, was sie von ihm erwartet hatte. Er kannte sie kaum, und doch bot er ihr seine Unterstützung an. Wenn ich mich ihm anvertraue, gehöre ich, wie so viele, zu jenen, die auf seine Gnade angewiesen sind, dachte sie. Sie würde ihm zusätzliche Verantwortung aufbürden, und davon hatte er dank seines Vaters, der seine Schützlinge an den Sohn weitergegeben hatte, bereits genug. Stolz reckte sie das Kinn und blickte ihn an. „Ich bin nicht in Schwierigkeiten“, betonte sie und sah Erleichterung in seinen Augen aufleuchten.
„Sie sind mein Gast auf Falder, Lady Emma. Meine Schwester wäre zweifellos enttäuscht, wenn ich Sie vor Ihrer geplanten Abreise vor die Tür setzen würde. Wenn Sie jedoch wieder schlafwandeln sollten, seien Sie gewarnt, denn das nächste Mal werde ich nicht so nachsichtig sein. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Unbedingt.“
„Ich bin erleichtert, das zu hören.“ Wieder fuhr er mit dem Daumen über die zarte Haut an ihrem Handgelenk, und sie hatte das Gefühl, am ganzen Körper zu beben. Als sie zu ihm aufsah, begegnete sie seinem eindringlichen und zugleich nachdenklichen Blick. Hatte er sie gestreichelt, um seine Drohung mit einem Versprechen zu krönen? Bewunderung bemächtigte sich ihrer gleichermaßen wie Zorn. Er war geschickt darin, seine Interessen durchzusetzen, dies hatte er bereits auf der „Mariposa“ unter Beweis gestellt.
Nun stand er vor ihr, und er brauchte nicht einmal mit den Augen zu zwinkern, um ein willenloses Geschöpf aus ihr zu machen. Sie war zu sehr die Tochter ihres Vaters, um seiner Raffinesse nicht zu applaudieren.
Gemeinsam gingen sie nun ans Wasser. Ein salziger Dunstschleier umgab sie und ließ die schwachen Sonnenstrahlen silbrig erscheinen. Der Strand war wilder als in Jamaika, und an die kühle Luft musste sie sich erst gewöhnen. Fröstelnd las sie eine Muschel auf und hielt sie an ihr Ohr. Das Rauschen, das der Wind in den gewundenen Gängen erzeugte, erinnerte sie an die Heimat. Für eine Sekunde fühlte sie sich fremd und unsicher, verloren im Sog der Ereignisse, in den sie geraten war, und angezogen von dem Mann, der neben ihr stand und dessen Wangen mit feinen Tröpfchen sprühender Gischt benetzt waren. Wenn sie tapfer gewesen wäre, hätte sie sein Gesicht berührt und die feuchte Haut unter ihrer Hand gespürt, um zu verstehen, was sie ohne diese Geste nur ahnte. Doch sie war nicht tapfer. Nicht in dieser Hinsicht. Nicht in England, mit Kleidern, die sich fremd auf ihrer Haut anfühlten, und diesem Hut, den der Wind immer wieder anhob, obwohl sie ihn unter dem Kinn festgebunden hatte.
Tu es nicht, hallte es durch ihre Gedanken, während sie sich vergeblich dazu zwingen wollte, vernünftig zu sein und einen Schritt von ihm zu weichen, um sich vor der Versuchung und vor dem Schmerz, der unweigerlich ihr Herz ergreifen würde, zu schützen. Als er jedoch die Hand hob, um mit dem Daumen über ihre Lippe zu streichen, vermochte sie nur noch die Augen zu schließen und seine Berührung ganz in sich aufzunehmen.
Nur dieses eine Mal, dachte sie flüchtig und öffnete leicht die Lippen.
„Gütiger Himmel, was machen Sie mit mir?“, sagte er heiser. Und endlich spürte sie seine hungrigen Lippen auf ihren, während die schäumende Brandung mit dem feuchten Sand unter ihren Füßen verschmolz. Hier standen sie, nur sie und Asher, umgeben vom rauschenden Meer und samtig grünen Hügeln, und pressten sich voller
Weitere Kostenlose Bücher