Liebe ist der größte Schatz
ihren Rippen.
„Tut es weh?“
„Manchmal. Weniger als zu Beginn.“
„Ich habe gar nicht gesehen, wie es geschehen ist.“
„Einer der McIlverrays nutzte den Moment, als ich nicht ganz aufmerksam war, und schoss.“
„Du hast deinen Degen geführt wie ein Mann.“
„Ich habe das Fechten schließlich von Männern beigebracht bekommen.“
„Wer ist Ruby? Du hast diesen Namen gerufen, während du im Fieber lagst.“
„Meine Schwester. Beaus Tochter. Ihre Mutter war eine Hure aus Kingston Town. Sie hat das Kind verlassen, als es gerade einmal zwei Jahre alt war.“
„Wo ist Ruby jetzt?“
„In einem Kloster auf Jamaika“, antwortete sie. Sie hoffte inständig, dass es dem Mädchen bei den Nonnen gut erging. „Sie ist acht Jahre alt und liebt Musik. Ich habe ihr beigebracht, Harmonika zu spielen. Und sie hat sich mit meiner Hilfe um den Garten von St. Clair gekümmert.“
„St. Clair ist das Haus deiner Familie?“
„War. Es wurde im vergangenen Sommer bei einem Brand zerstört, den die McIlverrays gelegt hatten, nachdem sie die Schatzkarte meines Vaters nicht fanden.“
„Wo habt ihr nach dem Brand gelebt?“
„In der Nähe der Docks. Ich hatte uns ein Zimmer in der Hafenstraße gemietet, bis Tante Miriam uns das Geld für die Überfahrt nach England schickte.“
„Und wie soll es weitergehen, wenn ihr das Gold nicht findet?“
Emerald antwortete nicht. Vermochte nicht zu antworten. Wie immer in schwierigen Augenblicken, in denen sie nicht weiterwusste, fasste sie sich an das Medaillon, das sie um den Hals trug, und strich gedankenversunken über den goldenen Deckel.
„Ich traf Annabelle Graveson in Thornfield. Sie erkundigte sich nach deinem Befinden und gab mir dies hier.“ Asher nahm ein schmales Buch aus seiner Rocktasche und überreichte es ihr.
Das bordeauxfarbene Leder war so alt, dass es Risse am Buchrücken aufwies. Als Emerald die erste Seite des Bänd chens aufschlug, fiel ihr ein handgeschriebener Name ins Auge: Evangeline Montrose. Bedächtig fuhr sie mit dem Fin ger über den Schriftzug.
„Meine Mutter hieß Evangeline“, sagte sie nach einer Weile nachdenklich.
„Und Montrose ist der Mädchenname von Annabelle“, fügte Asher vorsichtig hinzu. „Sie sagt, sie waren Cousinen.“
Annabelle Montrose, Evangeline Montrose. Emerald konnte es kaum glauben. „Wusstest du das?“
„Als ich vorige Woche bei den Gravesons war, sah ich das Buch auf ihrem Sekretär liegen. Mir fiel auf, dass das Wappen darauf und das auf deinem Medaillon gleich sind. Und heute schien mir Annabelle reichlich erregt, als sie mir das Buch aushändigte.“
„Denkst du, sie ist stabil?“
„Stabil?“ Er neigte fragend den Kopf zur Seite.
Emerald senkte verlegen den Blick. „Ist sie geistig gesund? Du musst wissen, dass meine Mutter es nicht war.“ Ein kalter Schauer lief ihr nun über den Rücken. Wurde nicht behauptet, dass Wahnsinn erblich sei? Ihr Blick schweifte wieder zum Himmel. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben.
Es war Juni …
Wo würde sie in einem Monat sein?
Und weshalb sollte Annabelle Graveson, die so viel Wert auf die Gesellschaft legte, ihre wenig rühmlichen Familienbande offenlegen? Das ergab keinen Sinn. Wollte Annabelle diese Geste als eine Warnung verstanden wissen? Immerhin hatte sie ihr das Buch nicht persönlich überreicht. Von Jack Henshaw wusste sie, dass Asher sich als Treuhänder um die Belange der Gravesons kümmerte. Versuchte die Dame ihn womöglich vor ihr, Emerald, zu schützen?
Die Grübelei erzeugte ihr Kopfschmerzen. Wenn sie wenigstens einen Hauch von Zuneigung in Ashers Augen hätte entdecken können, wäre alles viel einfacher. Doch er mied ihren Blick und erweckte eher den Eindruck mühsam bezwungener Ungeduld, wie er mit den Fingern fortwährend auf die Steinbrüstung trommelte.
„Die ‚Nautilus‘ wird in vier Tagen aufbrechen. Wenn du also mit Annabelle sprechen möchtest, sollten wir zügig eine Zusammenkunft arrangieren. Ich denke, du kannst dich auf ihre Verschwiegenheit verlassen, denn ein Skandal würde wegen der familiären Verbindung auch auf sie zurückfallen. Das wird sie nicht wollen.“
Emerald nickte. Er verband mit ihr offenbar nichts anderes mehr als Skandal und Gefahr, und sie sollte so rasch wie möglich von hier fort, damit sie nicht noch mehr Schaden anrichten konnte. So mussten sich jene unglücklichen englischen Jünglinge fühlen, denen sie häufig in den Spielhöllen von Kingston Town begegnet war.
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