Liebe ist ein Kleid aus Feuer
festlichen Hochamt zu Ehren der neuen Reliquie, die ab jetzt die Kirche der Königspfalz heiligen würde, zog es Raymond noch einmal in das leere Gotteshaus. Es würde für lange Zeit das letzte Mal sein, dass er es betreten konnte, vielleicht sogar das letzte Mal in seinem Leben. Das Heer der Verschwörer war inzwischen vollständig, und er war einer von ihnen geworden. Im Morgengrauen würden sie aufbrechen, und noch ahnte der König nicht, dass ihr Ziel nicht die nächste Pfalz, sondern das blühende Land jenseits der Alpen war, das sie für seinen Sohn erobern wollten.
Die Kerzen waren erloschen, die Gesänge verstummt. Nur noch ein leiser Geruch des Weihrauchs, den man am Morgen in üppigen Schwaden verteilt hatte, schwang in der Luft. Alles an diesem Ort wirkte ruhig und heilig, so voll göttlicher Unschuld, dass der wilde Aufruhr in Raymonds Herzen noch lauter zu toben schien als zuvor.
Seine Hände fühlten sich feucht an, sein Kopf aber war glasklar, obwohl er nicht mehr schlafen konnte, seit er die beiden entdeckt hatte. Nur der Versuch, die Lider zu schließen – und schon stand ihm alles wieder vor Augen, schärfer und brennender sogar als in jener Nacht. Er ging umher, er aß und trank, er redete, dabei war das Blut in seinen Adern eiskalt, und ein dicker Stein lag auf seiner Brust. Er war zum Geist geworden, ein Untoter, der sich widerrechtlich noch im Reich der Lebenden herumtrieb.
Er musste nicht überlegen, was zu tun war; seine Füße kannten bereits ihren Weg, und sie trugen ihn bis vor an den Altar, ohne Zögern oder Zaudern. Dieses Mal beugte Raymond nicht die Knie. Es wäre ihm wie ein Frevel vor dem Gekreuzigten erschienen, weitaus verwerflicher, als es sein Plan war.
Er blieb nur kurz stehen, blickte zu Ihm auf und bat Ihn inständig um Vergebung.
Ich muss Dir wehtun, betete er stumm, denn Otto hat mir den Fehdehandschuh zugeworfen und das Liebste auf der Welt gestohlen. Die Treue hab ich ihm aufgekündigt, bin zum Ritter seines Sohns geworden. Doch das allein wäre zu wenig. Nach Kriegsrecht steht mir im Gegenzug das zu, was er am meisten begehrt. Ich werde dafür sorgen, dass sie nicht in falsche Hände gerät, die Zunge des Mannes, der Dich gesegnet und getauft hat. Vertrau mir, Jesus Christus, und schütze mich armen Sünder, jetzt und in der Stunde meines Todes!
Dann griff er nach dem Reliquiar.
Sie hatten es nicht einmal verschlossen; es ließ sich, als er es behutsam umgedreht hatte, auf der Rückseite sehr einfach mit zwei kleinen Haken öffnen.
Nun gab es kein Hindernis mehr.
Vorsichtig nahm er das Holzkästchen heraus. Sein Herz schlug schneller gegen die Rippen, als er den Deckel beiseite schob.
Man hatte nichts verändert. Die Zunge des Täufers lag noch immer so darin, wie der Strick sie ihm einen triumphierenden Augenblick lang präsentiert hatte. Raymond schob den Deckel wieder zu.
Es war noch immer ein seltsames Gefühl, dem König nicht mehr zu dienen, wie er es sein halbes Leben lang getan hatte.
Er würde lernen müssen, sich daran zu gewöhnen.
JUNI 951
AUF DEM WEG NACH SÜDEN
Noch immer glaubte Eila zu träumen, denn nun erfüllte sich Tag für Tag aufs Neue, wonach sie sich als Mädchen auf Burg Scharzfels vergeblich gesehnt hatte: mit dem Vater zu reiten, inmitten eines großen Ritterheeres, das immer weiter anwuchs, je tiefer nach Süden sie gelangten. Jetzt, nachdem sie im Herzogtum Schwaben angekommen waren, in Liudolfs und Idas Land, war noch einmal ein großer Schwung an ausgeruhten, schwer bewaffneten Rittern dazugekommen, die die bisherige Truppe ergänzten und vervollständigten. Alle schienen begierig darauf, aus ihrem Dux baldigst den König zu machen; wäre es nach ihnen gegangen, sie hätten Liudolf längst auf ihre Schilde gehoben und wie in alten Zeiten zum Herrscher über das ganze Reich ausgerufen. Er aber wollte nichts davon wissen und vertröstete in dieser Sache seine Männer stets auf die Zeit nach Italien.
Es trübte Eilas ausgelassene Stimmung kaum, dass Sigmar ebenfalls dabei war und sie zudem Idas Seite nicht verlassen durfte. Die Herzogin klagte jetzt seltener, obwohl ihr die langen Stunden im Sattel noch immer zusetzten. Doch die Aussicht, mit einigem Glück bald die Krone Italiens tragen zu können, hatte ungeahnte Kräfte in ihr geweckt. Mit Händen und Füßen hatte Ida sich dagegen gewehrt, zur Schonung auf einen der zahllosen Pferdekarren verfrachtet zu werden, die Waffen und Proviant transportierten. Ochsen als Zugtiere
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