Liebe ist ein Kleid aus Feuer
hellsichtiger warst du als wir alle. Mit Recht bist du unser König, dem wir folgen.
In seiner Erregung stieß er die Tür auf, ohne anzuklopfen – und erstarrte. Alles Blut sackte aus seinem Kopf. Eisige Schwäche überkam ihn, als hätten ihn gerade die Flügel des Todesengels gestreift.
Der Mann und die Frau, ineinander verschlungen, bemerkten ihn nicht. Ihr langes helles Haar floss über das Kissen wie Silber. Ihre Beine waren obszön gespreizt, während der Mann sich in ihr bewegte. Ottos Hände glitten über ihren Körper, er ächzte und stöhnte, bis er schließlich einen tiefen, fast tierischen Laut ausstieß und erschlaffte.
Oda presste ihn an sich, als wolle sie ihn in sich aufsaugen, dann fielen ihre Arme herunter und sie begann zu lachen, so glucksend und ausgelassen, wie Raymond es noch nie gehört hatte.
Er schloss die Tür. Sein Körper zitterte. Die Beine wollten ihm den Gehorsam verweigern. Er sei, hatte Bernhard ihm vor langen Jahren einmal im Zorn an den Kopf geschleudert, mit Eisen gepanzert, bis hinein ins Herz.
Jetzt wünschte er verzweifelt, sein Waffenbruder hätte Recht damit behalten.
MAI 951
STIFT GANDERSHEIM
»Er kann nicht hier bleiben – niemals!« Bihilits schmale Hände sanken kraftlos herunter wie zwei erschöpfte Vögelchen.
»Er muss«, widersprach Rose. »Zumindest so lange, bis er sich etwas erholt hat. In diesem Zustand können wir ihn nicht fortschicken.«
»Wieso habt ihr ihn nicht gleich nach Kloster Brunshausen gebracht?« Fast angewidert starrte die Priorin auf Lando, der zusammengesunken neben dem Brunnen hockte, als sei ihm die ganze Welt fremd. »Die Brüder dort hätten sich seiner annehmen können.«
»Weil nur wir eine Celia als Infirmarin haben und nur unsere heilige Quelle die schlimmsten Krankheiten zu lindern vermag.«
»Ein junger Mann ohne Sinn und Verstand, der seinem Lehnsherrn entflohen ist – das ist undenkbar und verstößt gegen die guten Sitten!«
»Ich fürchte, selbst das könnte Lando vergessen haben«, konterte Rose sorgenvoll. »Er kennt gerade mal seinen Namen, mehr nicht. Kann nicht sagen, woher er kommt oder wer seine Eltern sind, geschweige denn, wie es zu dem Unfall kam. Schau ihn an und sag mir aufrichtig« – sie deutete auf den Kranken, der nicht einmal zu bemerken schien, dass gerade über ihn geredet wurde -, »sieht etwa so eine Gefahr für fromme Schwestern aus?«
Als Bihilit nur resigniert die Schultern hob, wandte Rose sich zur Seite. Ihr Ellenbogen bohrte sich in Riccardis’ Rippen, die bislang geschwiegen hatte.
»Jetzt bist du an der Reihe!«, sagte sie. »Gemeinsam haben wir ihn dem Berg entrissen. Gemeinsam können wir vielleicht auch unsere Priorin überzeugen.«
»Rose hat Recht«, sagte Riccardis. »Lando ist in großer Not, in einer Not, wie ich sie selten zuvor gesehen habe. Seine Seele befindet sich an einem fernen Ort. Bleibt dies unverändert, so ist er verloren, dazu verdammt, für immer in einem trüben Dämmern zu vegetieren, aus dem es kein Entrinnen gibt. Gelingt es jedoch, ihn wieder mit seiner Seele zu verbinden, ist Heilung durchaus möglich.«
Bihilits fein gezeichnete Brauen schnellten nach oben.
»Welche Medizin schlägst du vor?«, fragte sie. »Kräuter? Beerenwein? Tinkturen? Oder sollen wir lieber Celia dazuholen?«
»Ruhe, denke ich, gutes Essen, Licht, Sonne. Und vor allem Zeit. Damit er sich wieder zu erinnern lernen kann, ohne Angst, ohne Druck. Wir dürfen nichts unversucht lassen.«
Die Priorin wandte sich ab, und Rose befürchtete bereits, alles sei verloren. Dann jedoch drehte sich Bihilit langsam wieder zu ihnen um.
»Es ist viel, was ihr da von mir verlangt«, sagte sie. »Sehr viel! Ich wusste schon, warum ich gegen euren Ritt zum Rammelsberg war. Aber wenn ich jetzt nein sage, rennt ihr gewiss zu Gerberga, und was die dazu sagen wird, ist nicht schwer zu erraten. Wir können es versuchen.«
Rose begann zu strahlen.
» Versuchen, habe ich gesagt«, wiederholte Bihilit streng. »Eine gewisse Weile, sagen wir, ein paar Wochen, so lange, bis sich feststellen lässt, ob sich eine Änderung bei dem Kranken einstellt. Allerdings darf keine unserer Aufgaben darunter leiden. Und er muss lernen, sich unseren Regeln und Gepflogenheiten anzupassen, so verwirrt er auch sein mag. Jede Störung unseres Tagesablaufs, die kleinste Unregelmäßigkeit – und Lando muss das Stift auf der Stelle verlassen, egal in welchem Zustand auch immer.«
MAI 951
KÖNIGSPFALZ GRONE
Am Abend nach dem
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