Liebe ist ein Kleid aus Feuer
geschehen? Hatte Eila inzwischen den jungen Ritter Sigmar geheiratet und verschwendete längst keinen Gedanken mehr an den Sohn des Schmieds, der für seine verbotene Liebe an einem finsteren Ort büßen musste? Oder war sie tatsächlich auf die Suche nach ihm gegangen, wie Gunna es sich so inständig gewünscht hatte?
Sie drehte sich um und schaute nach vorn. Niemals würde sie die Hoffnung fahren lassen, Lando wieder in die Arme zu schließen. Nicht bis zum Ende aller Tage, das schwor sie sich in diesem Moment.
»Schau mal, Mama, der Himmel wird da vorne ganz rot«, hörte sie Lenya neben sich sagen.
»Das nennt man Abendrot, kleine Schnecke«, sagte Gunna. »Daran erkennt man, dass morgen ein besonders schöner Tag anbrechen wird.«
JULI 951
GANDERSHEIM
Rose fuhr schlaftrunken hoch. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war, dann jedoch spürte sie ihre verspannten Schultern und den steifen Rücken und bemerkte zu ihrem Erschrecken, dass die große Wachskerze, die sie am Abend auf dem Schreibpult aufgestellt hatte, bis auf einen kümmerlichen Rest heruntergebrannt war.
Schuldbewusst blies sie den Kerzenstumpf aus. Dann nahm sie sich Zeit, sich ausgiebig zu dehnen und zu strecken, um wieder Leben in die taub gewordenen Glieder zu bringen.
Wie leichtsinnig sie gewesen war! Bihilit würde ihr Vorwürfe machen, sollte sie jemals davon erfahren.
Schon ein Luftzug genügte, um Funken fliegen zu lassen und all die Schätze hier, die ihr so viel bedeuteten, in Asche zu verwandeln. Dann gäbe es keine Möglichkeit mehr, sich in die Schriften der Kirchenväter zu vertiefen, die in säuberlichen Abschriften hier aufbewahrt wurden; dann wäre es aus und vorbei mit den Heiligenlegenden, die neben dem geheimen Marienevangelium zu ihrer Lieblingslektüre geworden waren.
In letzter Zeit hatte sie zudem immer wieder die Schriftrollen von Bruder Rochus hervorgezogen, die er anlässlich der festlichen Hochzeit von Liudolf und Ida in wochenlanger Nachtarbeit hatte kopieren müssen. Rose erinnerte sich noch genau an sein säuerliches Gesicht und die miese Laune, die Eila und sie Morgen für Morgen hatten ausbaden müssen, wenn er nachts wieder einmal über Pergament und Tintenfass eingeschlafen war. Dem Brautpaar schien damals das kostbare Geschenk aus Raymonds Händen wenig zu bedeuten; Ida hatte es kurzerhand dem Stift übereignet, ohne sich die Mühe zu machen, einmal genauer hineinzusehen.
Ein Umstand, von dem Rose seit Monaten profitierte, zumal die anderen Kanonissinnen an Catull und Terenz nicht interessiert waren. Selbst Riccardis, sonst allem Antiken gegenüber aufgeschlossen, legte bei diesen Autoren eine seltsame Zurückhaltung an den Tag. Erst nachdem Rose sich intensiver mit ihren Werken befasste hatte, verstand sie, weshalb. Rochus hatte ihnen damals auf Burg Scharzfels an Hand von Deftigem und teilweise sogar Zotigem die Grundlagen der lateinischen Grammatik beigebracht – das begriff sie erst heute. Manche der Texte trieben ihr beim Lesen geradezu die Schamesröte ins Gesicht, andere ließen Gefühle und Empfindungen in ihr erwachen, die sie am liebsten schnell wieder vergessen wollte.
Und dennoch wurde sie nicht müde, sich an der Geschliffenheit der Sprache, der Kunst des Aufbaues, besonders jedoch am rhetorischen Geschick des Terenz zu begeistern, das jede Zeile seiner Komödien bewies. Wie leichtfüßig er mit den Versen umzugehen wusste, wie scheinbar selbstverständlich Maß und Rhythmus in all das flossen, das aus seiner Feder stammte! Einmal nur so schreiben zu können, einmal nur einen Stoff in solche Verse zu gießen – das war ein Traum, so süß und verlockend, dass er ihr beinahe als Sünde erschien.
Freilich war sie kein Küken mehr, das immer und überall sein Herz auf der Zunge trug. Durch Schaden und stete Beobachtung klug geworden, zog Rose inzwischen vor, ihre persönlichen Studien unbeobachtet zu betreiben. Bihilit hatte ihr die Erlaubnis erteilt, sich nach der Abendandacht ins Skriptorium zurückzuziehen. Heute Nacht hatte Rose zum ersten Mal die Müdigkeit übermannt. Mitten im Lesen musste sie eingeschlafen sein, was sicher auch daran lag, dass sie sich seit Wochen um Lando kümmerte, wann immer ihre Dienste im Stift es erlaubten.
Doch leider zeigten die Bemühungen bislang keinen Erfolg. Er war noch ebenso apathisch wie bei seiner Ankunft, saß stundenlang irgendwo in sich zusammengesunken, ohne auch nur einen Funken Interesse für das zu zeigen, was um ihn herum
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