Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge
hineinzuhelfen. »Grandpa würde vermutlich sagen, es nützt ja nichts«, sagte sie. »Alles nur für die Gesundheit.«
Ich streckte die Hand aus und tat gleichmütig, wobei ich es vermied, meine Großmutter anzusehen. Ich hörte das Rascheln des Stoffes, als sie nach und nach, sehr langsam, ihre Kleidungsstücke auszog und über mein Handgelenk legte. Schließlich hielt ich ihr den Kittel hin. »Hier, Grandma, ich schaue nicht hin, aber zieh ihn bitte so schnell wie möglich an, damit du nicht frierst, okay?«
»Warte«, befahl sie, und dann fiel etwas aus Satin über meine Hand. Schockiert drehte ich mich um. Es war ein dünnes Seidenhemdchen. Um Fassung ringend, faltete ich es sorgfältig.
Ohne hinzuschauen, hielt ich ihr den blauen Kittel hin. Ihre Arme glitten in die Ärmel, und ich zog die Schnüre auf dem Rücken so eng zusammen, dass niemand ihren Körper sehen konnte. Züchtig zupfte sie den Kittel zurecht, als sie sich setzte. Dann wandte sie mir den Rücken zu. »Liebes, würdest du bitte meine Brassiere öffnen«, bat sie mich.
Brassiere . Dieses Wort benutzt heute niemand mehr. Ich rieb mir die Hände, damit sie warm wurden und ich den Haken durch die Lücken des Kittels öffnen konnte. Grandma schob die Träger herunter und entledigte sich ihres Büstenhalters durch die Ärmel des Krankenhauskittels. Zufällig sah ich, dass Grandmas Büstenhalter so ähnlich aussah wie meine. Mein Gott, auch meine Großmutter trägt Bügel- BH s mit Spitze! Sorgfältig schob sie die winzigen Schalen ineinander und steckte den Büstenhalter unter den gefalteten Kleidungsstapel, den ich über die Stuhllehne gehängt hatte. Dann schlüpfte sie wieder in ihre weißen Mokassins. Ich stellte fest, dass ich gewisse Verhaltensweisen meiner Großmutter geerbt hatte: Auch ich falte beim Arzt immer sorgfältig meine Sachen und lege sie aufeinander. Wenn der Arzt sieht, wie gut ich mich um meine Kleidung kümmere, kümmert er sich hoffentlich genauso gut um mich.
Als ich wusste, dass ich wieder hingucken konnte, ergriff ich ihre Hand, damit sie auf den Untersuchungsstuhl klettern konnte. Sie lehnte sich hintenan, und ihre kleinen Beine baumelten zu beiden Seiten herunter. Ich überlegte, ob ich die Situation durch eine flapsige Bemerkung entschärfen sollte, ließ es dann aber lieber sein.
Der Arzt nickte mir knapp zu, als er hereinkam, und fragte flüsternd: »Was macht ihr Gedächtnis?« Ich wackelte mit der Hand, um ihm zu bedeuten, dass es mal so und mal so war. Wir beide waren nicht ganz einer Meinung, was ihren Gesundheitszustand anging. Bei einem früheren Besuch in der Praxis hatte er ihr einen Vortrag darüber gehalten, dass Antidepressiva ihre Stimmungsschwankungen stabilisieren würden. Sie hasste die Nebenwirkungen und hatte Angst, abhängig zu werden, deshalb hatte ich ganz unschuldig gefragt, ob sie nicht zur Trauerbewältigung eher zu einem Psychotherapeuten gehen sollte. »Vielleicht würde das ja auch ihrem Gedächtnis guttun«, hatte ich gemeint. »Das wird auch nicht gerade besser.« Ich hatte nichts anderes sagen wollen als Bitte, hilf uns! , aber er hatte die Augen zusammengekniffen und in äußerst bestimmtem Tonfall erwidert: »Bevor wir darauf zurückgreifen, muss ich mich zunächst um die körperlichen Symptome kümmern.« Ich hatte im College Psychologie studiert und wusste daher, dass Psychologie unter Medizinern nicht immer hochangesehen ist … Jedenfalls saß ich den Rest der Untersuchung kochend vor Wut dabei und sah mit an, wie er meiner Grandma zu unterstellen schien, dass sie sich ihre Symptome nur einbildete. Aber ich war eben keine Ärztin und konnte nur anwesend sein und meinem Vater und meinem Onkel von den Untersuchungsergebnissen berichten.
An diesem Tag jedoch schien der Arzt ein wenig zugänglicher zu sein als beim letzten Mal. Er zog den Vorhang vor den Untersuchungsstuhl. Gott sei Dank! Ich liebe Grandma, und ich bin nicht prüde, aber da ich weiß, wie schwer es ihr fällt, sich nackt zu zeigen, hätte ich sicher auch Probleme damit. Ich hörte, wie der Arzt hinter dem Vorhang zur Krankenschwester sagte, sie solle das Spekulum anwärmen, und dann ging eine Lampe an. »Ooh, ist das hell!«, sagte Grandma. Der Arzt bat sie, sich zu entspannen.
Während er sie untersuchte, drang die Erkenntnis langsam in mein Bewusstsein: Grandma ist tatsächlich eine Frau ! Abgesehen von den letzten Monaten hatte ich sie immer nur in Beziehung zu den Menschen in ihrem Leben gesehen: als Ehefrau und
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