Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge
Mutter, als Großmutter, als Bridgespielerin, als Gemeindemitglied, als nörgelnder Gast im Restaurant, als Patientin in der Arztpraxis. Ich habe sie immer nur als Teil ihrer Umgebung wahrgenommen, als eine Figur in einem Szenario, ein Subjekt, das auf Außenreize reagierte … aber niemals als Person mit Gedanken und Gefühlen, unabhängig von der Situation, in der sie sich befand. Ich hörte den Arzt fragen, ob es weh tue, wenn er hier drücke, ob sie dort Druck empfinde, ob sie bitte einmal tief Luft holen könne, damit er ihr Herz hören könne. Mein eigenes Herz schlug mittlerweile heftig, weil mir klargeworden war, dass Grandma und ich aus den gleichen Teilen bestehen. Wir haben Herzen, die schlagen (und brechen), einen Verstand, der Gedanken formuliert, die wir aussprechen oder für uns behalten, Körperteile mit lebenspendenden Funktionen. Wir haben beide geliebt, Liebe gemacht, uns manchmal sexy gefühlt und Leidenschaft erfahren. Wir haben beide nachts allein wach gelegen und geweint, weil wir nicht verstanden haben, warum unsere Geliebten nicht da sind. Hinter dem Vorhang lag Grandma ganz still und gehorsam, während der Arzt sie dieser kalten Prozedur unterzog. War sie gesund? Es kommt darauf an, wie man es sieht: Zählt ein gebrochenes Herz?
Im Wartezimmer hatte ich ihr noch versichert, dass der Arzt sich um alles kümmern würde, aber tief im Inneren war ich genauso besorgt wie sie. Ein Schlaganfall? Konnte es wirklich etwas Ernstes sein? Und wenn es darauf ankam, würde ich dann mein Leben hintenanstellen, um sie zu pflegen?
Im Spätsommer hatte Grandma etwas zu mir gesagt, was mir immer wieder unvermittelt in den Sinn kommt: Man muss entscheiden, was man im Leben will, und dann muss man es tun. Vorher kann man sich nicht an jemanden binden. Ganz gleich, in welcher Lebensphase sich eine Frau befindet, ob in einer Beziehung oder allein, in ihrem Herzen trägt sie eine Vision ihrer Zukunft. Grandmas Vision war es, ihren Helden bei seinem Abenteuer zu begleiten, einen großen Haushalt zu führen und schließlich das Alter zu genießen, sich mit Grandpa zurückzulehnen und sich an ihren Enkeln zu erfreuen. Meine Visionen unterschieden sich beträchtlich von ihren: Ich wollte in New York arbeiten und auf Reisen gehen, solange ich noch jung war – und jetzt kann ich diese Ziele schon auf meiner Liste abhaken. Ich kann beginnen, ernsthaft über meine Zukunft nachzudenken: Entweder finde ich einen Partner und unsere einzelnen Lebensstränge verbinden sich zu einer Liebesgeschichte, die besser ist als jeder Roman … oder ich finde keinen und lebe meine Geschichte alleine.
Grandpa und Grandma aber haben ihre Geschichte gemeinsam gelebt, und ich glaube fest daran, dass es solche Beziehungen immer noch gibt. Heutzutage drückt sich Liebe nur ein bisschen anders aus als zu ihrer Zeit, als sie Grandpa kennenlernte und ihn heiratete. Damals hatten zwei Menschen meist praktische Motive, um ein eigenes Leben zu führen, man braucht sich ja bloß meine Großeltern anzuschauen: Sie wollte gerne eine Familie haben, er brauchte Unterstützung, um erfolgreich im Beruf sein zu können. Damals wurden junge Leute anscheinend noch nicht ermuntert, besonders wählerisch in der Wahl ihrer Partner zu sein. Wenn man von jemandem umworben wurde, nahm man einfach seine freundliche Einladung an, Zeit miteinander zu verbringen. Um des gesellschaftlichen Friedens willen sagte die Frau ja, wenn der Mann beschlossen hatte, etwas Ernstes zu wollen.
Wenn dann ein Junge ein paarmal bei dem Mädchen zu Hause gewesen war und die beiden sich liebgewonnen hatten, dann begannen sie auch, mit ihren Freunden auszugehen. Wurden sie ständig miteinander gesehen, hieß es, sie gingen »fest« miteinander. Der Übergang zwischen Werbung und Beziehung war im Allgemeinen leicht zu erkennen, sowohl für die Gesellschaft als auch für das Paar selber. Und je ernster die Beziehung wurde, desto mehr wuchs die gegenseitige Anziehung. War das Paar dann bereit zu heiraten, so waren die Pläne für die Hochzeit und ihr gemeinsames Leben bescheiden. Schließlich arbeiteten die meisten Frauen nicht, und es war nur ein Einkommen verfügbar, das keinen großen Raum für extravagante Wünsche oder Urlaube ließ. Meine Großeltern zum Beispiel reisten in den Flitterwochen 1948 durch die Smoky Mountains in Tennessee. Sie machten Picknick und fotografierten sich am Straßenrand. Erst kürzlich hatte Großmutter sich dieses Album mit mir und ihren übrigen
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