Liebe ist stärker als der Tod
wirklich weg?«
»Lüge ich jemals?« sagte Coco grollend.
»Und kommt nicht wieder?«
»Da bin ich nicht so sicher.«
»Aber wenn sie kommt, muß sie ja an Ihnen vorbei, petite mère …«
»Das ist ein schlimmer Weg.« Sie beugte sich etwas vor und strich die brandroten Haare zur Seite. Sie hatte kleine, ergreifend gütige, graugrüne Augen in dem massigen Gesicht, und wer diese Augen sah, wurde überwältigt von einem Gefühl kindlicher Liebe. »Bin ich ein Scheusal, Pierre?«
»Sie sind unbeschreiblich, petite mère … etwas wie Sie, müßte ewig sein wie Paris –«, sagte er, ehrlich ergriffen.
Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Ev zuckte zusammen und riß krampfhaft die Augen auf. Sie blickte sich schlaftrunken um, erkannte nicht sofort ihre Umgebung und klammerte sich an der Tischkante fest.
»Es gibt Kaffee, Weißbrot und Käse, Mademoiselle«, sagte Madame Coco und goß den Kaffee auf. Der Geruch war herrlich. »Und du, Pierre, gehst hinauf in das Zimmer und überziehst das Bett! Und lüfte die Bude! Du weißt, warum …«
Gehorsam verließ Pierre die Küche, und Madame Coco deckte den Tisch, holte das knusprige Stangenbrot, Butter und einen Block Weichkäse und drückte Ev ein Messer in die Hand.
Als sie danach ihre Hand zurückzog, berührte sie Evs Haare. Nur den Bruchteil einer Sekunde blieb die Hand auf dem goldschimmernden Kopf liegen, drucklos, schwebend … aber das war schon mehr an mütterlichem Gefühl, was Madame Coco in den letzten Jahren so offen gezeigt hatte.
*
Später, nach dem Frühstück, das Ev zu sich nahm wie eine Somnambule, halb im Wachzustand, halb noch im Schlaf gefangen, trugen Madame Coco und Pierre sie hinauf ins Zimmer. Sie schlief schon wieder, obwohl Cocos Kaffee nachgewiesenermaßen eine Potenzierung von Irish Coffee war und schon manchen Müden zum Wachsein verholfen hatte.
»Mein Gott, ist sie vernichtet –«, sagte Madame denn auch, als Ev in Pierres frisch bezogenem Bett lag (die Bettwäsche stellte Madame), und sie sagte richtig nicht müde, sondern vernichtet. »Sie ist mehr tot als lebendig … hast du Klotz das nicht gemerkt?«
»Ich habe nicht darüber nachgedacht.« Pierre setzte sich neben Ev auf die Bettkante und strich ihr die Haare aus dem entspannten Gesicht. »Ich bin mit ihr gelaufen und gelaufen, nicht den direkten Weg vom Arc nach hier, sondern Umwege. Ich dachte mir, solange sie neben mir läuft, denkt sie nicht mehr ans Sterben. Was ich ihr alles erzählt habe … ich weiß es nicht. Ich habe ihr einfach keine Ruhe mehr gelassen, über sich selbst nachzudenken.«
»Und jetzt?«
»Sie schläft.«
»Später, du Schwachkopf?« Madame setzte sich vorsichtig auf einen Hocker vor der Staffelei. Sie kannte ihre brüchigen Möbel. Hinter ihr stand die Leinwand. Ein weiblicher Akt war mit Kohlestift angerissen. Langbeinig, sylphidenhaft schlank, etwas gebogen, vom Scheitel bis zu den Füßen eine gespannte Sehne der Erotik. Monky …
Madame Coco stieß mit dem Daumen über ihre Schulter. »Soll sie so dastehen wie diese Nutte?«
»Monky ist im Grunde ein liebes und anständiges Mädchen.«
»Sie hat meine Haare beleidigt!«
»Nein.«
»Was nein?« sagte Madame drohend.
»Ev wird nicht ein Aktmodell sein. Ich weiß überhaupt nicht, ob ich sie jemals malen werde.«
»Und wenn, dann nur als Madonna.«
»Sie übertreiben plötzlich, petite mère.« Pierre rückte zur Seite. Ev hatte im Schlaf die Beine angezogen, rollte sich zusammen und beanspruchte die ganze Breite des Bettes. Sie schlief wie ein Kind, und man wartete darauf, daß sie den Daumen in den Mund steckte. »Ich weiß nichts über sie. Sie hatte keinen Koffer bei sich, keine Tasche, nichts!«
»Wenn man vom Arc de Triomphe springen will, nimmt man auch keine Koffer mit. Aber irgendwo muß sie ja gewohnt haben. Irgend jemand muß sie heute vermissen. In irgendeinem Schrank hängen ihre Kleider. Sie hatte Bekannte, Freunde, vielleicht sogar einen Liebhaber …«
»Natürlich. Ein Kind bekommt man nicht von einem Automaten gemacht«, sagte Pierre. Madame Coco bestrafte ihn für diesen Satz mit einem tiefen Knurren.
»Du hast nach gar nichts gefragt, nicht wahr?« sagte sie danach.
»Nein. Sie wird es von allein erzählen, wenn sie ausgeschlafen hat.« Sie wird weggehen, dachte er. Das ist es. Sie wird sich bedanken, versprechen, daß sie vernünftig geworden ist, daß sie nicht mehr an das Sterben denken will … ja, und dann wird sie gehen. Wer kann sie daran hindern? Ein
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