Liebe ist stärker als der Tod
Callac drei Bilder losbekommen! Drei direkt! Bauernköpfe! Allons enfants des beaux-arts! Das kann man nie wieder gutmachen. Das ruiniert mich, Cosima!«
»Pierre ist ein Genie … Sie sehen es bloß noch nicht.«
»Dann weiß er ein blendendes Versteck für seinen Genius.«
»Marius, ich sage Ihnen: Merken Sie sich den Namen! Pierre de Sangries. Es würde mir leid tun, wenn Sie einmal zu spät kämen –«
»Ich bin schon einmal zu spät gekommen. Cosima, wenn wir das Jahr 1914 –«
»Es kommt nicht wieder, Marius.« Madame Coco lächelte. O ja, sie konnte sogar in solchen Augenblicken verträumt lächeln. »Geben Sie Pierre die dreihundert. Es wird seine Seele weit machen wie den Himmel über dem Etang de Vaccarès –«
»Warum sagen Sie das, Cosima?« Callacs Stimme schwankte. Etang de Vaccarès, die Camargue, die Unendlichkeit von Himmel, Meer und Land. 1914, zwei Tage vor der Kriegserklärung. Eine Liebe zwischen den Büscheln salzigen Grases. Als der Krieg zu Ende war, hieß die große Sehnsucht aller Jahre bereits Cosima Lebrun. »Mein Gott, warum haben Sie für diesen schrecklichen Pierre de Sangries nicht schon längst die unbekannte Muse gespielt?!«
»Da gab es noch keine Eva, Marius.«
»Keine was?« fragte Callac erschrocken. Sie ist verrückt geworden, dachte er betroffen. Arme Cosima, wie alt bist du jetzt? Rechne ich richtig? Es müssen 76 Jahre sein. Aber die vergißt man, wenn man deine grauenhaft roten Haare sieht.
»Das verstehst du nicht, Marius«, sagte Madame. Und sie lachte sogar, was Callac noch mehr erschreckte. »Sei einmal in deinem Leben so etwas wie ein Engel – und merke dir den Namen Pierre de Sangries. Er hat etwas von van Gogh –«
Sie beendete das Gespräch, bevor sie Callacs neue Antwort hörte. Man redet und schreibt zuviel unwichtige Dinge, war ihre Ansicht. Was wirklich Wert ist, wird davon erwürgt.
*
Ev erwachte, weil sie fror.
Es war nicht die Kälte, die ihren Körper durchschüttelte … es waren die sich entspannenden Nerven, die jetzt revoltierten, nachdem man sie bis zum Zerreißen strapaziert hatte. Sie zog die Decke bis zum Kinn, krümmte sich zusammen, klapperte mit den Zähnen und wurde hin und hergeworfen von dem eisigen Strom, der sie durchzog. Sie tat nichts dagegen, sie wußte nichts, was diesen Schüttelfrost vertreiben konnte, aber sie dachte: Jetzt sterbe ich doch! Das ist das Herz. Mein Blut ist kalt. Ich erfriere, weil das Herz nicht mehr schlagen will. Wenn die Kälte mein Gehirn erreicht, ist alles vorbei. Alles.
Daß sie solches noch denken konnte mit einem klaren Gehirn, fiel ihr nicht auf. Sie biß vor Kälte in die Bettdecke, wühlte den Kopf in das Kissen und schloß wieder die Augen.
Er dauerte nicht lange, dieser Kältestrom in ihr. Was ihm folgte, war eine große, aber seltsam sanfte Schwäche, eine taube Schwerelosigkeit. Sie blickte an die schräge Decke des Zimmers, dann hinüber zu der großen Fensterwand, hinter der sich der Himmel in einem sonnendurchwirkten Blau dehnte, durchschnitten von einem viereckigen Ziegelschornstein, auf dem sich die verrostete Rauchklappe träge drehte.
Die Wände sind mit Zeitungen tapeziert, dachte sie. Es riecht nach Ölfarbe und kaltem Zigarettenrauch. Da steht eine Staffelei. Ein Bild. Ein Hügel unter goldenem Himmel. Ist es Wein, was auf ihm wächst? Ein Stück Provence?
Wo bin ich?
Sie wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, das Frieren könne wieder anfangen. Pierres Zimmer, dachte sie. Wer hat mich heraufgetragen? Die Frau mit den feuerroten Haaren. Ich habe etwas gegessen, irgend etwas, ich weiß nicht mehr, was es war. Ich habe nur gekaut und geschluckt. Und Kaffee war da. Habe ich auch Kaffee getrunken? Gerochen habe ich ihn … er war so wunderbar, der Geruch. Else, wo bleibt der Kaffee? Hubert Bader, nach dem Mittagessen. Obligatorisch zwei Tassen Kaffee und ein Kognak. Dann war die Welt auch am Nachmittag in Ordnung.
Kaffee auf der Terrasse von Château Aurore. Vierzehn junge unbekannte Männer lachen, tätscheln einen Körper ab, kneifen und streicheln. Vierzehn Väter … Jules' arrogante Stimme: »Aber Mama, das hast du nicht gewußt? Mademoiselle ist ein flottes Mädchen … Ein Prachtkind wird das bei vierzehn Vätern –«
Laßt mich sterben! Ich flehe euch an: Laßt mich doch endlich sterben –
Sie zog die Bettdecke über ihren Kopf und wartete, ob ihr Herz jetzt versagte. Aber es schlug weiter, wurde sogar ruhiger, sie konnte lang durchatmen, holte ein paarmal tief
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